Gefechte, Anschläge, ständige Anspannung: Soldaten im Auslandseinsatz erleben Dinge, die sich die meisten Menschen nicht vorstellen können. Wieso entscheiden sie sich trotzdem für diesen Weg? Und wie gehen sie nach dem Einsatz mit ihren Erfahrungen um?
Ein Vater, der sein Kind mit heißem Öl übergießt, um im Krankenhaus an Medikamente zu gelangen, mit denen er seinen Hunger unterdrücken kann. Kinder, die sich auf der Straße mit Tieren um verfaultes Obst streiten. Oder der Dorfälteste, der seine Frau umbringen will, weil sie ihm keine Kinder schenkt. Es stellt sich heraus, sie ist noch Jungfrau. „Es gibt Sachen, die man einfach nicht vergessen kann“, sagt Marcel. Der ehemalige Soldat war 2005 für vier Monate in Afghanistan stationiert, mitten im Krieg. Marcel und seine drei Kameraden waren viel unterwegs, ständig draußen. Als Scharfschützen. Sie gruben sich in die Erde, beobachteten, suchten nach Minen, Munitionsverstecken und anderen Bedrohungen für die Soldaten der Internationalen Sicherheitsunterstützungsgruppe (ISAF). Und sie versuchten, den Menschen vor Ort zu helfen.
„Die Gefahr war für mich kein Argument“
„Es hat sich so ergeben“, antwortet Tom auf die Frage, warum er sich für eine Karriere als Soldat entschieden hat. Er ist Versorgungsoffizier bei der Bundeswehr. Nach dem Wehrdienst 2001 verlängerte er seinen Vertrag immer wieder, bis er 2010 zum Berufssoldaten wurde. Der gelernte Zimmermann machte eine weitere Ausbildung und studierte, alles bei vollem Lohnausgleich. „Es war mir klar, dass ich auch nach Afghanistan geschickt werden könnte“, sagt er. Aber er fühlte sich wohl in seinem Team und genoss die Kameradschaft. „Da wäre ich ungern der einzige gewesen, der geht.“ Also blieb er. Und setzte sich bewusst mit einem Auslandseinsatz auseinander: „Es war nie eine Frage, ob ich davor Schiss habe, sondern wie ich mich vorbereite.“ Vorbereiten musste er sich schließlich auf den Kosovo. Von Juli bis Oktober 2015 war er dort im deutschen Camp Prizren für den Nachschub zuständig.

„Man verpflichtet sich in einem Alter, in dem man intellektuell auf einem niedrigeren Level ist. Da ist man noch jung und begreift nicht die Tragweite seiner Entscheidungen“
Tom
Marcel
Auch Hannah arbeitete in den Jahren 2013 und 2014 jeweils für mehrere Monate in Prizren. Die Krankenschwester ging auch wegen des Geldes zur Bundeswehr. Im Vergleich zu ihren Kolleginnen in den Krankenhäusern Süddeutschlands verdiente sie plötzlich fast doppelt so viel. Einen möglichen Einsatz im Ausland allerdings immer vor Augen. „Die Gefahr war für mich kein Argument“, sagt sie und gibt zu, wenig über die Konsequenzen nachgedacht zu haben: „Man will zur Bundeswehr, was da passiert, wird man dann schon sehen.“ Sie ist davon überzeugt, dass viele Soldaten so denken. „Die meisten gehen relativ jung zur Bundeswehr und machen dort ihre Ausbildung. Aber vielen ist gar nicht bewusst, was auf sie zukommt.“
„Ein Menschenleben zählt da nichts“
Marcel war sich über die Folgen seiner Verpflichtung immer im Klaren. Er ging aus Überzeugung zur Armee, Geld war kein Anreiz. „Für das Risiko sind die Zuschläge zu gering.“ Er sei auf der Suche nach neuen Erfahrungen gewesen. „Wenn ich nur wegen des Geldes runter gehe, passieren sehr viele Fehler.“ Ein Jahr wurden er und seine Kameraden auf ihren Afghanistan-Einsatz vorbereitet, doch was Marcel dort sah, lässt ihn bis heute nicht los.
Mehr als die Feuergefechte treiben ihn die menschlichen Schicksale um, die ihm begegnet sind. „Wie tief eine Menschheit sinken kann“, belastet den Ex-Soldaten. „Ein Menschenleben zählt da nichts. Mädchen und Frauen haben da eine Stellung unterm Esel, das beschäftigt mich.“
Das beschäftigte auch seine Kameraden. Besonders schlimm war es, wenn Mädchen vor den Bundeswehr-Konvoi geworfen wurden, in der Hoffnung auf eine stattliche Entschädigung. Nicht jeder kam mit diesen Erlebnissen zurecht, „manch einer drehte durch“. Aber einmischen war verboten. „Es ist ihre Kultur, ihr Recht, wir mussten uns als Gast anpassen“. Also versuchten sie, ihren Job zu machen und das Erlebte professionell zur Seite zu schieben.
Im wesentlich sichereren Kosovo erlebte auch Tom einen Vorfall, den er nicht einfach abstreifen kann. In den Bergen an der Grenze zu Mazedonien war er auf einer bekannten Verbrecherroute unterwegs, als ihm plötzlich ein Schmuggler gegenüberstand. „Da wurde mir bewusst, es kann auch was passieren, das regt einen im Nachhinein schon zum Denken an.“ Und auch wenn die Gefahr von Anschlägen und Überfällen sehr gering ist, steckt man Tag und Nacht in Uniform, die Waffe immer griffbereit. „Es ist halt anders als daheim.“
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der Rückkehrer haben Hilfe in Anspruch genommen (v.a. im nahen sozialen und beruflichen Umfeld) *
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"Der Einsatz hat mich selbstbewusster gemacht" *
„Man muss die Situation annehmen“
Daheim. Ein wichtiges Wort für alle Soldaten im Einsatz. Und obwohl der Kontakt nach Hause durch moderne Kommunikationsmittel deutlich einfacher geworden ist, kann er das „daheim sein“ nicht ersetzen. Als Tom in den Kosovo ging, war sein Sohn fünf Monate alt. „Man verpasst was, die Tage gibt dir niemand zurück“ sagt er. Nicht zu wissen, ob das eigene Kind ihn nach der Rückkehr noch erkennt, „war schwierig“. Also muss man professionell bleiben. „Wenn ich jeden Tag darüber nachdenke, dass ich meinen Sohn nicht sehe, kann ich keine gute Arbeit machen.“ Man verdrängt. Man lenkt sich ab.
„Viele gehen in Auslandseinsätzen fremd“ erzählt Hannah. „Nach einer gewissen Zeit fehlt dir die Zuneigung durch den vertrauten Partner, die vertraute Geborgenheit. Das kann Skype nicht ersetzen.“ Beziehungen gehen zu Bruch. „Nach ein paar Wochen lässt das Interesse am Kontakt in die Heimat nach, man ist angekommen.“ Und teilt seine Erfahrungen mit den Kollegen, die sich sowieso deutlich besser in einen hineinversetzen können. Das schweißt zusammen und verbindet. Wie eine „Ersatz-Familie“.

„Die Leute können sich nicht vorstellen, wie krass sich das anfühlen kann“
Hannah (Kosovo)
„Es war unruhig, aber wenn ich mich auf dem Bau umschaue, passiert da mehr“
Marcel (Afghanistan)
„Ich habe viele erlebt, die den Einsatz brauchen, um sich zu profilieren“
Hannah (Kosovo)
„Heimzukommen ist der Wahnsinn“
Und dann kommt man zurück. „Heimzukommen ist der Wahnsinn“, beschreibt Tom die Gefühle, die sich bei der Rückkehr entwickeln. „Ich musste erst mal runterkommen“ sagt Marcel, der seine Rückkehr vor dem eigenen Freundeskreis verheimlichte, um sich in Ruhe an die neue Situation zu gewöhnen. Das war schwierig. „Alle wollen was von Dir, Du musst viel über den Einsatz erzählen.“
Den Weg zurück in den Alltag zu finden ist eine Herausforderung, weiß Tom: „Man muss sich nach dem Einsatz wieder einfügen, das begreifen viele nicht.“ Und sind frustriert. „Man darf nicht mit großen Erwartungen heimfliegen, dann wird man nicht enttäuscht. Die Leute haben es daheim auch ohne dich hingekriegt, das Leben geht auch ohne dich weiter.“ Tom hat sich schnell wieder zu Hause zurechtgefunden. Auch für Hannah, die ihren Einsatz im Kosovo als „Erholung vom Alltag daheim“ empfand, war es nach wenigen Wochen, als sei sie nie weg gewesen.

Ganz anders Marcel. „Ich habe heute noch Probleme im Alltag. Wenn ich auf den gerammelt vollen Weihnachtsmarkt gehe, fange ich an zu schwitzen und will wieder nach Hause“, sagt er und erzählt, wie er sich verändert hat. „Früher war ich mittendrin in der Partie, heute bin ich eher stiller Beobachter, ich ziehe mich schon ein bisschen zurück.“ Er ist schreckhafter geworden, deutlich ruhiger als früher. Über das, was ihn verändert hat, zu sprechen, ist nicht mit allen möglich. Das meiste hat er mit seinen Kameraden verarbeitet. Oder mit seiner Familie und guten Freunden.
Nach dem Einsatz musste seine Einheit zum Psychologen. Aber das funktionierte nicht. „Was soll ich jemandem erzählen, der das nicht erlebt hat?“ fragt er sich. „Wenn, dann müsste der Psychologe auch schon mal in Afghanistan gewesen sein.“ Und wenn er erzählt, fällt es vielen Leuten schwer, die Geschichten zu glauben. Weil sie unvorstellbar sind. „Diejenigen, die etwas Bestimmtes erlebt haben, sollten es erzählen können, ohne dass ungläubige Gegenfragen kommen.“ Oder Ablehnung. Denn die Akzeptanz von Soldaten ist oftmals schlecht, bemängelt Marcel: „Im Endeffekt haben wir das Land aufgebaut, wo andere sagen, wir sind Eroberer.“ Das ärgert ihn.
- „Einsatz blieb für mich persönlich folgenlos“ * 39%
- „Einsatz hat mich persönlich verändert“ * 38%
„Ich musste mein Leben nach dem Einsatz ganz oder zum Teil neu ordnen“*
- 20 bis 25 Jahre 72%
- 26 bis 30 Jahre 68%
- 31 bis 35 Jahre 60%
„Ich würde es wieder machen“
Inzwischen ist Marcel als Personenschützer tätig und empfindet die Zeit im Ausland als wichtigen Baustein seines beruflichen Erfolgs. Ob er wieder nach Afghanistan gehen würde? „Im Nachhinein war es eine Erfahrung wert. Wenn ich noch aktiver Soldat wäre, warum nicht?“.
Auch Tom hat sich verändert. „Man wird taktischer, auch im Alltag“. Und er stellt sich die Sinnfrage: „Wenn wir im Kosovo abziehen, geht’s da wieder los.“ In diesem Sinne war sein Einsatz „verlorene Lebenszeit“. Aber es entwickelten sich auch „unglaublich tolle Freundschaften, die ich immer noch pflege“, und finanziell hat sich die Zeit ebenfalls gelohnt. Heute lebt er bewusster: „Man weiß das eine oder andere viel mehr zu schätzen.“ Als Berufssoldat wird er wieder ins Ausland gehen.
Für Hannah war ihr Einsatz eine „tolle Erfahrung, die ich auf gar keinen Fall missen will“. Sie ist gelassener geworden, fokussiert sich mehr auf die Dinge, die ihr wichtig sind und hat gelernt, die Kleinigkeiten im Leben zu genießen. Nach ihrem zweiten Einsatz ist sie Mutter geworden und sagt: „Hätte ich keine Familie, würde ich es wieder machen.“
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"Ich weiß mein Leben heute mehr zu schätzen" *
Alexander (36), Kosovo Nov. 2001 bis Mai 2002
Stabs- und Versorgungseinheit im „Airfield Prizren“
Als Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) versteht die Medizin eine verzögerte Reaktion auf belastende, negative Erlebnisse, wie sie während eines Auslandseinsatzes vorkommen können. Unterschieden wird zwischen einmalig und wiederkehrenden bzw. fortlaufenden belastenden Erlebnissen. Durch die ständige Anspannung während eines Einsatzes wird Soldaten oftmals die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse erschwert. Erst nach der Beendigung ihres Einsatzes kommen Betroffene zur Ruhe und können das Erlebnis neu durchleben. Wenn das Ereignis nicht bewältigt wird, kann dies noch Jahre nach dem Ereignis/Einsatz zu PTBS führen.
Symptome für die Entwicklung einer PTBS sind Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Alpträume, Aggressivität, Ablehnung sowie Schuld- und Schamgefühle. Betroffene kapseln sich vom sozialen Umfeld ab, machen Überstunden, vermeiden Kontakt zu Familie und Freunden.
Anonyme Hilfe und Beratung finden Sie beim Psychosozialen Netzwerk der Bundeswehr oder unter 0800 588 7957.
* Alle Angaben basieren auf einer Studie der Bundeswehr