Die kleine Bartagame versucht sich in der Plastikbox umzudrehen. Die Schachtel ist zu klein, der schuppenlose Bauch scheuert über den Plastikboden. Auf der Tür, vor der die Box steht, klebt ein Zettel mit der Aufschrift „Reptilienauffangstation”. Warum die Echse ausgesetzt wurde, bleibt ihr Geheimnis. Es reiht sich ein in die Geschichten überforderter Halter und Züchter. Die Bartagame ist eine Silkback-Zucht. Dabei werden den Echsen die Schuppen weggezüchtet. Die Tiere gelten als schick. Sie gelten auch als Qualzucht.
Der Neuankömmling bekommt ein ausgiebiges Bad, da er sich nicht selbstständig häuten kann. Die Folgen der Zucht. In den vorsichtigen Händen des Pflegers zappelt das Tier und reißt sein kleines Maul auf. Silkbacks neigen zudem zu Sonnenbrand – für ein wechselwarmes Tier eine traurige Ironie. Die Echse ist eines von vielen exotischen Tieren, die Jahr für Jahr in der Reptilienauffangstation in München landen. In den Nebenstraßen der Universitätsgebäude von München, versteckt in den Gebäuden der Veterinärmedizin, sind die Spezialisten für Reptilien und Exoten aller Art untergebracht. Seit 15 Jahren kümmern sich Tierärzte, Biologen, Tierpfleger und Auszubildende um exotische Tiere, die ausgesetzt, abgegeben oder beschlagnahmt wurden.
Wenn Tierliebe bei Schlangen endet
Im Büro des Biologen Patrick Boncourt ist nur ein kleiner Fleck auf der Couch frei. Zwischen den Schreibtischen steht ein Terrarium, neben der Couch ebenso. Immer wieder plätschert es, eine Schmuckschildkröte schwimmt lautstark durch ihr Revier. Zurzeit ist viel los, erzählt Patrick, vergangenes Wochenende war wieder eine Messe, auf der die Experten über artgerechte Reptilienhaltung aufgeklärt haben. Am Stand nebenan war ein Reptilienzoo, dort konnten sich Besucher mit einer Königspython für drei Euro fotografieren lassen. Die ganze Messe über wurde die Schlange herumgereicht – einfach verdientes Geld mit Tieren.
Die Reptilienauffangstation setzt auf Spendengelder, die sich wesentlich schwerer verdienen lassen, berichtet Patrick. Die Leute spenden nicht gerne für Schlangen – sie haben keine Hundeaugen, schnurren nicht, lassen sich nicht streicheln. Für viele Leute endet damit die Tierliebe. Dabei ist die Station dringend auf Spenden angewiesen. Jährlich kommen etwa tausend Tiere in die Station, in ein neues Zuhause vermittelt werden aber nur um die 700 Tiere. Das liegt auch an den schwer vermittelbaren Tieren, die entweder giftig oder krank sind.
Die Arbeit in der Auffangstation kann frustrierend sein. Und dennoch ist die Stimmung selten gedrückt. Zur Mittagspause treffen sich alle auf dem Gang, essen ihr Pausenbrot neben der Kreuzbrustschildkröte Günther, die immer wieder an die Oberfläche taucht und Luft holt. Nebenan tauen die tiefgekühlen Mäuse für die Giftschlangen auf, Futterboxen mit Insekten stapeln sich auf Günthers Terrarium. Die Pumpen der Aquarien dröhnen, Heimchen zirpen in ihren Boxen. Es riecht nach Gewächshaus. Dazwischen wird gelacht.
Momentaner Tierbestand
Aufgenommene Tiere pro Jahr
Vermittelte Tiere pro Jahr
Ich finde eigentlich jedes Tier faszinierend. Wenn mich ein Tier einmal nicht fasziniert, muss ich mich nur länger damit beschäftigen.
Simon Kuhn, Auszubildender Tierpfleger
Fast alle, die hier arbeiten, halten sich auch in ihren Wohnungen Reptilien oder andere Tiere. So auch Simon Kuhn, Auszubildender Tierpfleger in der Auffangstation. Reptilien haben auf ihn schon immer eine besondere Faszination ausgeübt. Als Kind rettete er Erdkröten aus Lüftungsschächten und pflegte eine verletzte Kreuzotter gesund. Heute hält er sich zwei Leopardgeckos, eine Kornnatter, eine Langnasen Strauchnatter und eine schwarze Baumschlange. Gerne würde er sich noch mehr Tiere holen, doch dazu muss erst einmal eine größere Wohnung her. Vor allem der Platzbedarf der Tiere macht es schwierig, sie in der Wohnung zu halten.
Giftschlangen haben es Simon besonders angetan. In der Station wohnen die Tiere in einem Raum hinter zwei verschlossenen Türen, der alleine nicht betreten werden darf. Der Raum mit den „Giftis”, wie Simon sie nennt, ist fast unangenehm eng. Terrarium reiht sich an Terrarium und in jedem züngelt ein neugieriger Bewohner. Für die Fütterung müssen manche Tiere getrennt werden, da sie sich sonst im Kampf um die Mäuse ernsthaft verletzten könnten. Simons Kollege öffnet das Terrarium einer Speikobra, die ihr Gift erstaunlich zielsicher auf ihr Opfer spritzen kann. Mit Schutzbrille ausgestattet greift er mit einem Schlangenhaken in das Terrarium und hebt vorsichtig das Tier in eine Box. In der Futterzange hält er die tote Maus und lockt die Schlangen aus ihren Verstecken. Ein Kopf schnellt vor, Giftzähne graben sich in den kleinen Körper. Dann verschwindet die Schlange wieder.
Chamäleons in den Socken
Nach der Fütterung der Giftschlangen versorgt Simon die Chamäleons in Patricks Büro. Die kleinen Tierchen zählen zu den Lieblingen der Station. Sie wandern bedacht mit ihren Greifarmen über das Urwaldgeäst. Ein Chamäleon verwechselt seinen langen Schwanz mit einem Ast und hebt sich daran fest. An den feinen, hellgrünen Schuppen hängen Wassertropfen. Die kugelrunden Augen huschen umher. Erspäht das Tier ein Heimchen, öffnet es sein Mäulchen und schiebt die Zunge etwas hervor. Dann schießt die Zunge nach vorne und trifft zielsicher das Insekt. Das kleine Männchen, das jetzt zehn Zentimeter lang ist, wird noch eine Größe von über 60 Zentimetern Länge erreichen.
Die jungen Tierchen sind noch nicht lange in der Station. Sie stammen von einem Schmuggler, der die Tiere in Socken gestopft nach Deutschland brachte. Der Zoll entdeckte die illegal gefangenen und importierten Chamäleons. Bis die zehn Tiere in die fachmännischen Hände der Auffangstation kamen, waren vier nicht mehr zu retten.
Spendenkonto
Auffangstation für Reptilien München
Kontonummer: 988154
Bankleitzahl: 701 900 00
Münchner Bank
IBAN: DE83701900000000988154
BIC: GENODEF 1M01
Zwischen Terrarien und Kaffeemaschinen
Solche Geschichten machen wütend. Die Mitarbeiter der Station scheinen sich davon aber nicht unterkriegen zu lassen. Im Büro des Leiters Markus Baur plätschern die Pumpen der Schildkröten-Terrarien. Ein verlorenes Heimchen zirpt. Zahlreiche Terrarien stapeln sich auf Regalen. Auf ihnen liegen Tierpräparate. Ein Hula-Mädchen als Wackelfigur tanzt unter den UV-Lampen. Eine Kaffeemaschine fällt fast in den Abfluss, daneben liegt ein Schlauch zum Gießen. Hinter einem Schlangenterrarium verbirgt sich eine alte Abzugshaube, die verrät, dass hier einmal ein Stück Universität war, vielleicht ein Chemieraum. Zweckentfremdet, wie so vieles hier.
In dem dennoch gemütlichen Büro kommen immer wieder alle zusammen, um Kaffeepause zu machen, um zu rauchen, um zu plaudern. Vor einer Woche wurde ein Tierpfleger von einer Giftspinne gebissen und ist noch nicht wieder zurück. Der Vorfall ist immer noch frisch im Gedächtnis, aber hauptsächlich werden Witze darüber gemacht. Wie über alles. Man spürt die Lebensfreude der Mitarbeiter – Leute, die tagtäglich mit Tierschutzverstößen und Qualzuchten zu tun haben, mit verantwortungslosen Haltern und Schmugglern. Es ist vielleicht der einzige Weg, in einer solchen Welt klarzukommen – mit viel Humor.
Die Geschichte hinter den Tieren der Auffangstation:
Bildquellen
Titelbild: gemeinfrei
Bilder: Reptilienauffangstation München, Katharina Juschkat