Platte machen in Toplage

von Andrea Eppner

In München leben immer mehr Obdachlose. Einige schlafen sogar auf der Straße, selbst im Winter. Doch was sind das für Menschen? Wo bekommen sie Hilfe? Eine Stadtführung, jenseits von Hofbräuhaus und Frauenkirche.

Geht Radu ins Bett, sieht er aus wie ein müder Polarforscher. Stoppelbart und schwarze Haare quellen unter einer wolligen Inkamütze hervor. In einem daunendicken Anorak und klobigen Winterstiefeln hockt er auf einem Berg dicker Decken. Radu, Mitte dreißig, lacht. Immerhin sieht er vom Bett fast bis zum Stachus. So zentral wie er wohnt in München nicht jeder. Nur, dass sein Schlafplatz kein Dach hat. Und nur eine Wand.

Radu ist obdachlos und heißt in Wirklichkeit anders. Er gehört zu der wachsenden Zahl der Menschen, die in München „Platte machen“, also: auf der Straße schlafen. Ging man bei der Stadt im Sozialbericht 2017 noch von rund 550 Betroffenen aus, schätzt Gordon Bürk, Geschäftsführer des Evangelischen Hilfswerks München, ihre Zahl inzwischen auf etwa 1000.

„Rumänien“, sagt Radu und klopft sich auf die Brust. Er spricht kaum Deutsch, in Zeichensprache ist er aber gut. Er deutet auf den Ringfinger, da, wo bei vielen der Ehering steckt. Er ist wohl verheiratet. „Kinder“, sagt Radu dann, spreizt fünf Finger in die Luft. „Rumänien.“ 

Mutterseelenallein in München, auf der Straße, selbst bei Eis und Schnee. Wie macht Radu das? Und: Wie kommen all die anderen durch, die sich wie er irgendwie durchschlagen? Wir zeigen die bettelarme Seite unserer reichen Stadt.

 

Draußen Schlafen trotz Kälte

Wir starten bei Radu. Sein Atem dampft in der kalten Luft. Er zeigt auf zwei dicke, fleckige Daunenkissen. Unter einer Decke liegt ein blauer Schlafsack. „Schlafen, hier, ja, ja“, sagt er und lacht. „Kalt.“ Vor ihm steht eine kreisrunde Keksdose aus Metall. Sie ist leer. Er deutet auf einen blauen Müllsack hinter ihm, darin vier, fünf leere Dosen.  So verdient Radu also sein Geld.

 

Eigentlich müsste Radu nicht auf der Straße schlafen. Als EU-Bürger darf er sich zwar in München aufhalten. Anspruch auf Geld oder eine Unterkunft hat er aber nicht. Trotzdem muss in München keiner auf der Straße schlafen. Das verhindert das „Kälteschutz-Programm“: In der ehemaligen Bayernkaserne im Norden der Stadt bekommt jeder ein Bett – egal woher er kommt. Doch viele der 850 Schlafplätze bleiben leer, selbst bei Kälte. Manche Obdachlose verzichten auf ein warmes Bett, weil sie nicht mit vielen Menschen in einem Raum schlafen wollen. Andere, weil Alkohol und Drogen im Notquartier tabu sind. Weil sie Angst haben, dort beklaut zu werden. Oder weil sie dort morgens schon um 8 Uhr früh wieder auf die Straße müssen.

Hilfe für Zuwanderer – im „Schiller 25“

Wer trotzdem ein warmes Bett will, muss erst ins „Schiller 25“. Die Beratungsstelle für wohnungslose Zuwanderer liegt mitten im schrillbunten Bahnhofsviertel, an der Ecke von Schiller- und Landwehrstraße. Abgeklebte Schaufenster, drinnen Wartebänke, draußen knallblaue Wände. Die fallen zwischen den Wettbüros, Tabledance-Bars und Handyläden kaum auf. Radu hat die Beratungsstelle trotzdem entdeckt. Er kramt eine Salbe hervor, er hat sie im Schiller 25 bekommen. Hier hätte er sich auch einen Einweisungsschein für den Kälteschutz in der ehemaligen Bayernkaserne holen können – und sogar den Fahrschein, um dorthin zu kommen.

Streetworker im Einsatz – Beratung „auf Platte“

In der Teestube „komm“ arbeitet Laura, 27, blaue Jeans, moosgrüner Wollpulli, breites Tuch um den Hals. Die langen blonden Haare hat sie hochgesteckt. Als Streetworkerin ist Laura oft draußen, besucht Obdachlose direkt „auf ihrer Platte“. „Wir sprechen sie an, fragen, ob sie etwas brauchen, halten Kontakt.“ Jeder soll wissen, wo er Hilfe findet. Ob er diese auch annimmt, muss jeder selbst entscheiden. „Wir zwingen niemandem etwas auf.“

 

 

Zuhause auf Zeit für Obdachlose

Wenn Laura nicht zu den Obdachlosen geht, kommen sie zu ihr – und zwar in die Teestube „komm“. Die liegt mitten im Schlachthofviertel, in der Zenettistraße. In den Hinterzimmern können sich Obdachlose beraten lassen. In den Räumen vorn finden sie vom Nachmittag bis zum Abend ein Zuhause auf Zeit.

Drinnen ist es warm, es riecht nach Schweiß. Gleich hinter der Tür ist ein Tresen, der Raum verwinkelt. Menschen sitzen gedrängt an vielen Tischen. Fast wie in einer dampfigen Eckkneipe. Auch in der Teeküche müssen die Obdachlosen ein paar Cent für Tee und Butterbrot bezahlen. „Sie sollen nicht vergessen, dass alles etwas kostet“, erklärt Laura.

Die meisten kochen aber selbst, die Zutaten bringen sie mit. Herd und Töpfe gibt’s in der Teestube. „Hier können sie sich zubereiten, worauf sie Lust haben“, sagt Laura. „Oft tun sich mehrere zusammen. Manche kochen richtig auf.“ Davor können sie duschen und Wäsche waschen, danach fernsehen. Oder Briefe abholen. Obdachlose können die Teestube als Adresse angeben. „Eine Postadresse ist der erste Schritt weg von der Straße“, erklärt Laura. Denn damit kann man Leistungen beim Jobcenter beantragen.

Arbeit, aber trotzdem auf der Straße

Einige Besucher der Teestube haben eine Arbeit, erzählt Streetworkerin Laura. Meist sind das Mini- und Tagesjobs. Doch sogar Festangestellte kommen in die Teestube. Selbst unter ihnen gebe es welche, die sich in München keine Wohnung leisten können. Oder einfach keine finden. „Das größte Problem ist die Wohnungsnot in München“, sagt Laura.

So sieht das auch Barbara Thoma von der Bahnhofsmission. Sie arbeitet gleich neben Gleis elf im Hauptbahnhof. Thoma ist eine der Leiterinnen der Mission, die 24 Stunden geöffnet hat. „Etwa 9000 Menschen in München sind derzeit wohnungslos“, sagt sie. Wer plötzlich auf der Straße steht, bekommt in der Bahnhofsmission auch mitten in der Nacht Hilfe. Tagsüber ist die Infostelle der Stadt, in der Franziskanerstraße 8 nahe dem Ostbahnhof, erste Anlaufstelle. Die Stadt biete viele Angebote. So landen die meisten gar nicht erst auf der Straße, sondern in einem Notquartier, in einem  Obdachlosenheim – oder in einem Clearinghaus. Das ist ein Wohnheim, das mehr als eine Unterkunft auf Zeit bietet. Unterstützt von Sozialarbeitern können Bewohner hier auch die Probleme angehen, die bei ihnen den Weg zu einer eigenen Wohnung blockieren.

Auf der Straße kann jeder landen

Trotzdem. Auf der Straße landet man schneller, als viele denken: Davon ist Wolfgang Räuschl, 60, überzeugt. Räuschl, groß und kräftig, grauer Schnauzer, kurzes Haar, hat selbst zwei Jahre lang auf Parkbänken im Englischen Garten geschlafen. „Im Winter in der S-Bahn.“ Rund zehn Jahre ist das her, damals wurde seine Firma geschlossen. Räuschl verlor die Arbeit, damit ging es abwärts. Von anderen Obdachlosen hielt er sich bald fern. Viele waren betrunken, depressiv. Statt für den Rausch entschied sich Räuschl für die Einsamkeit. Aber: „Ich habe nie gebettelt und auch nicht getrunken“, sagt er. Das ist ihm wichtig. Auf der Straße hat er sein Geld als Flaschensammler verdient. Bis er eine Flasche mit einem Aufkleber von „BISS“ entdeckte – der Straßenzeitung des Vereins „Bürger in sozialen Schwierigkeiten“ (www.biss-magazin.de). So fand Räuschl den Weg in die BISS-Zentrale nahe dem Ostbahnhof. „Drei Wochen später war ich festangestellter BISS-Verkäufer“, sagt er. Nach ein paar Monaten sogar eine Wohnung. Das war 2012. Seither steht er mehrmals die Woche am Kulturzentrum Gasteig und verkauft die BISS. Seit drei Jahren ist er zudem Stadtführer. Als einer von mehreren „Experten der Straße“ zeigt er die bettelarme Seite der Stadt. Wieder mittendrin zu sein statt außen vor – Räuschl genießt das.

Experte der Straße

Wolfgang Räuschl hat selbst zwei Jahre auf der Straße gelebt. Warum er heute am liebsten jungen Menschen die Welt der Obdachlosen zeigt, verrät er im Video.

Arztbesuch ohne Krankenversicherung?

 

Räuschl zeigt uns eine Station seiner Route – das „Haneberghaus“. Darin, gleich hinter der Kirche St. Bonifaz, ist die Obdachlosenhilfe der Abtei untergebracht. Hier übernimmt Frauke, 55, sonnenblonde Haare, warmes Lachen. Sie stellt sich nur mit Vornamen vor. Denn so nennen sie auch ihre Gäste von der Straße, und im Haneberghaus geht es familiär zu. Frauke ist sowas wie die Hausmutter am Herd. Mittags kocht sie warmes Essen für die Obdachlosen. Und wenn Zeit ist, päppelt sie sogar heimatlose Topfpflanzen auf, die niemand mehr wollte. Schafft es einer ihrer Gäste weg von der Straße, darf er zum Abschied eine der davon mitnehmen, verrät sie – und führt in den Keller des Haneberghauses. Dort gibt es eine Arztpraxis für Menschen ohne Krankenversicherung, viele Duschen und eine Kleiderkammer. Hier stapeln sich Pullis und Schuhe. Daneben Kartons mit Mützen und Socken. Einige haben Spender selbst gestrickt.

Akademiker und Obdachlose frühstücken gemeinsam

Mit anderen am Tisch sitzen, dazugehören. Das hätte sicher auch Wolfgang Räuschl gefallen, hätte er das „Matthäusfrühstück“ in seiner Zeit auf der Straße gekannt. Die Idee dazu hatte Pfarrer Thomas Römer schon vor mehr als 20 Jahren. Damals lagerten oft Obdachlose in den Nischen der evangelischen Kirche St. Matthäus am Sendlinger Tor. „Wir wollten ihnen eine Heimat in der Kirche bieten“, sagt Römer. Das gelang: 80 bis 100 Menschen kommen jeden zweiten Donnerstag in den Gemeindesaal. Nach einer kurzen Predigt frühstücken alle gemeinsam: Akademikerin neben armer Seniorin, Pfarrer neben Menschen, die in Obdachlosenheim wohnen und einigen, deren Heimat sonst die Straße ist. „Die größte Not ist die Einsamkeit.“

Obdachlos – und kein Ende

Was BISS-Verkäufer Räuschl geschafft hat, gelingt vielen anderen Obdachlosen nicht. So war das auch bei Anton, 48, der eigentlich anders heißt. Sein zotteliger Bart umrahmt das Gesicht wie ein Kranz, die braunen Haare sind schulterlang und strähnig. Ganz ohne Obdach ist er seit 2003. Er hat sich eingerichtet auf der Straße. Oder besser gesagt: in einem Treppenhaus „mit Teppichboden“. Wo genau, das will er nicht verraten. Er hat Angst entdeckt und vertrieben zu werden. Darum schleicht er sich erst spätabends hinein und frühmorgens wieder raus.

Anton ist ein kluger Kopf, hat sogar ein Studium begonnen. Alkohol trinkt er kaum. Er sei „nicht der typische Obdachlose“, sagt er. Doch wenn Anton spricht, verirrt er sich nach wenigen Sätzen in Nebensächlichkeiten. Zum Ziel kommt er nie. „Ich kann mich schlecht fokussieren“, sagt er. Mit der „Prioritätensetzung“ habe er auch Probleme. Anton deutet auf seinen fleckigen, beigen Pulli. Wäsche waschen, duschen – wäre alles möglich. Lohnt sich für die Straße aber nicht, findet Anton. Wenn er den Arm tief in einen Mülleimer steckt und nach Pfandflaschen wühlt, werde der Pulli doch gleich wieder dreckig. Anton lacht, zeigt gelbe Zähne und viele Lücken. Er sei froh, dem Hamsterrad entkommen zu sein, in dem so viele Menschen stecken. So hat er sein kleines Stück vom guten Leben abbekommen. Selbst, wenn seine nackten Füße in löchrigen, grünen Plastikgaloschen stecken.

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