Obdachlos in München: Ein Schicksal zwischen Brücke und Straße

Schicke Wohnung oder coole WG – denkt man an die bayerische Hauptstadt, denkt man automatisch an Wohlstand. Das trifft aber nicht auf alle zu. Auf der dunklen Seite Münchens ist es nämlich kalt und unbequem: Wolfgang lebt auf der Straße. Zwei Stunden mit einem Obdachlosen.
München, ein sonniger Dienstagvormittag: In der Nähe des Hauptbahnhofs sind viele Menschen unterwegs. Sie unterhalten sich, hören Musik oder telefonieren. Doch mittendrin sitzt ein älterer Mann auf dem Gehweg vor einer Blechwand. Eine Mütze liegt vor ihm, die wenigen Münzen darin schimmern im Sonnenlicht. Ich setze mich zu ihm. Obwohl die Sonne scheint, ist es recht kühl. Trotzdem ein ganz schöner Tag. Aber nicht für Wolfgang (Name geändert). Er ist schlecht drauf. Er hat schlecht geschlafen, hatte Ärger mit seinen Sozialarbeitern und nein, heute ist er einfach nicht in der Stimmung für ein Gespräch. Vielleicht morgen oder nächste Woche. Und während er nicht reden will, fängt Wolfgang an zu erzählen.
Obdachlos in München: Hier sitzt Wolfgang tagsüber
Wolfgang ist obdachlos. Gefühlt ist er 25, sagt er. Sein wirkliches Alter verrät er nicht, doch er sieht aus wie Ende 50. Er sitzt mal hier, mal da, aber immer in dieser Gegend. Man kennt sich mittlerweile. Sein Bett ist eine Nische am Rand einer Brücke, direkt an einer vielbefahrenen Straße. Jetzt gerade schläft dort jemand anders. Wenn das bei dem Lärm überhaupt möglich ist. Der Boden ist eiskalt, doch Wolfgang bemerkt das gar nicht. Er hat momentan Probleme. „Ich war eine Weile weg“, sagt er. Aber nicht, wo genau. Einem Bekannten erzählt er später, er sei im Urlaub gewesen, und lacht.

Zwei Brillen auf einmal, weil eine nicht mehr reicht

Das Lachen steht ihm. Ein paar Zähne fehlen, aber seine Augen sind warm und freundlich. Er trägt Vollbart und tiefe Falten zeichnen seine Wangen. Er hat eine Wollmütze auf, darüber eine blaue Basecap und er trägt zwei Brillen auf einmal. Eine allein reicht nicht mehr aus, aber eine stärkere ist zu teuer. So sieht er wenigstens was. Er zündet sich eine Zigarette an. Wolfgang spricht von früher. Seine Freundin von damals, die war gut zu ihm. Sie hat ihm die Wange genäht, als sein Gesicht nach einer heftigen Schlägerei aufgeplatzt und blutig war. Er ist später zu ihr gezogen. Doch „in ihrer großen Wohnung kam ich mir so winzig vor“. Generell hat er sich in Wohnungen nie wohl gefühlt. „Immer dieses beengende Gefühl.“ Und dann auch noch der Ärger mit den Vermietern. „Die kommen immer gleich, wenn man sich streitet.“ Und gestritten haben sie viel.

Obdachlos in München: Eine Nische als Bett
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„Ich hab‘ viel geweint“

Einmal ist ihm die Hand ausgerutscht. Nicht stark, „so eine leichte Watschn halt“. Sie hatte das ganze Geld für Parfum und Creme ausgegeben und sie waren doch beide zu der Zeit arbeitslos. Aber er hätte sie nicht schlagen dürfen. Das weiß er und das tut ihm immer noch leid. Danach haben sie sich getrennt. Sie wollte es später sogar noch einmal versuchen, doch das konnte er nicht. „Das ist wie bei einem Kartenspiel. Wir haben am Anfang die Karten auf den Tisch gelegt und dann habe ich sie geschlagen. Dadurch hat dann eine Karte gefehlt und wenn die Karten unvollständig sind, dann funktioniert es nicht mehr“, erzählt er. Aber es war schwer für ihn. „Ich hab‘ viel geweint“, sagt er und zündet sich noch eine Kippe an. Und dann war da seine Frau. Sechs Jahre waren sie verheiratet, aber auch ihre Ehe hat es nicht geschafft. Er hatte einfach keine Zeit für sie, er war damals als selbständiger Fernfahrer immer unterwegs. Bis nach Südafrika ist er gefahren. Er musste so viel arbeiten, damit er seiner Familie ein Haus bauen kann. Doch das hat er nach der Trennung seiner Frau und der gemeinsamen Tochter überlassen. Die ist heute 16 Jahre alt, lebt wohl in Hamburg. Kontakt haben sie offenbar keinen, aber darüber will er auch nicht so wirklich reden.

„Das einzige, das einem weh tun kann, ist die Liebe“

Der Boden fühlt sich immer kälter an. Langsam wird es unangenehm. Aber Wolfgang merkt nichts. Er sitzt auf einer kleinen Tasche, hat eine Jogginghose an, dicke Wollsocken und weiße abgelaufene Turnschuhe. Einen Pulli und eine grüne Jacke, aber keinen Schal. Er friert nicht. Dabei wiegt er gerade mal noch 50 Kilo. Früher waren es 90 Kilo und mehr. Aber er isst nicht mehr viel, „eine Wurstsemmel am Tag reicht“. Er zündet sich die nächste Zigarette an. Wie er den Winter übersteht? Er kämpft sich eben durch … Mehr sagt er dazu nicht. „Das einzige, das einem weh tun kann, ist die Liebe“, erklärt er. Alles andere sei erträglich, aber die Liebe, die tue weh. Wenn er Probleme hat, dann geht er. Dann setzt er sich irgendwo hin und muss das verarbeiten. Und deshalb will er heute auch nicht mit mir reden, sonst aber gerne. Wenn er mal ein Zimmer hat, dann lädt er mich ein. Dann macht er auch was zu essen.

Ich sitze jetzt etwa eine Stunde hier, im Minutentakt laufen Leute an uns vorbei. Wenn sie gucken, dann wirken sie überrascht. Viele drehen sich im Vorbeigehen immer wieder nach uns um. Fragende Blicke, mitleidige Blicke. Manche lächeln, wenige geben tatsächlich etwas Kleingeld. Mittlerweile sind es vielleicht vier Euro. Und zwischendurch kommen Bekannte. Eine Dame mit ihrer schwarzen Hündin kennt Wolfgang schon lange. „Wir sehen uns jeden Tag“, sagt sie lächelnd und hat kein Problem damit, dass er ihre Hündin streichelt. Wenig später stehen zwei Männer vor uns mit einem kleinen Jungen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Die kennt Wolfgang nicht. Wir verstehen sie auch nicht, sie sprechen kein Deutsch. Aber sie wollen eine Zigarette, so viel wird klar. Wolfgang gibt ihnen zwei. Und Feuer hat er auch. Als nächstes nimmt er zwei Euro aus seiner Mütze und reicht sie dem Jungen. „Kauf dir was Schönes“, sagt er.

„Seit zehn Jahren sitzt er hier“

Das konnte er nämlich nie, als er klein war. „Ich hätte mir auch gerne mal Schokolade gekauft, aber das ging halt nicht.“ Wolfgang lebte auf einem Bauernhof und hat 16 Geschwister. Die wohnen jetzt alle irgendwo auf dem Land. Wolfgang macht die nächste Zigarette an und bietet mir das „Du“ an. Wieso geht er nicht zu seiner Familie? Die haben ihre eigenen Probleme. Und dann streitet man sich ja eh nur und das bringt keinem was … „Ja hey!“ Ein Mann bleibt stehen und unterbricht uns. „Dich habe ich schon länger nicht mehr gesehen“, sagt er zu Wolfgang. „Wo warst du?“ Dann kommt die Geschichte mit dem Urlaub und die beiden lachen. „Seit zehn Jahren sitzt er hier“, erzählt der Mann. Vielleicht waren es auch nur fünf, zwischenzeitlich war Wolfgang wohl mal weg. Ich hätte jetzt gern einen Kaffee oder etwas zu essen, Wolfgang möchte aber nichts. Nur eine weitere Zigarette.

Wolfgang war tatsächlich immer wieder mal weg. Er war auch schon öfters im Knast. „Einmal wegen Totschlags“, erzählt er. Zehn Jahre, da „musst‘ ich oft einstecken“. Aber er weiß sich zu wehren. Früher hat er nämlich geboxt. Ich friere und mein Magen knurrt. Und mein Po ist mittlerweile taub. Jetzt sitze ich schon seit zwei Stunden bei ihm. Ich biete ihm noch einmal an, dass wir etwas essen oder trinken gehen. Wieder lehnt er ab. Er muss jetzt ohnehin woanders hin, immer nur am selben Fleck sitzen, das kann er nicht. Wir stehen auf. Ich möchte ihm gern etwas Gutes tun, aber ich darf ihm nichts geben. Wir schütteln uns die Hände und wünschen uns alles Gute. „Beim nächsten Mal bin ich vielleicht besser drauf, dann können wir reden“, sagt er und überquert die Straße. Ich schaue ihm nach. Beim Bäcker am Eck hole ich mir einen heißen Kaffee und fahre nach Hause.

Hilfe für Obdachlose

Sie sind selbst betroffen oder kennen jemanden, der obdachlos ist oder kurz vor der Wohnungslosigkeit steht? Hier finden Sie Unterkünfte und Kontaktdaten.

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