Viele große Verlagshäuser investieren derzeit in teure Multimedia-Projekte. Doch hat diese Art von Storytelling wirklich eine Perspektive im Journalismus? Unterwegs mit Visionären.
Ulrike Köppen und Robert Schöffel sind aus dem Schatten herausgetreten, den der Betonturm des Bayerischen Rundfunks (BR) auf die Arnulfstraße in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofes wirft. Sie haben Sonnenbrillen aufgesetzt und schieben ihre Fahrräder zwischen den Passanten hindurch in Richtung Innenstadt. Köppen blickt auf eine Ampel, die gerade auf grün umschaltet. Im Losgehen sagt sie: „Die perfekte Geschichte erzähle ich dir bei einem Bier.“ Es ist ein früher Frühlingsabend. Vor dem BR-Hochhaus tummeln sich die Mitarbeiter der Rundfunkanstalt. Sie gehen nach einem langen Arbeitstag nach Hause oder etwa in den nahegelegen Biergarten an der Hackerbrücke. Die beiden BR-Journalisten Ulrike Köppen und Robert Schöffel dagegen haben sich wie jeden Abend auf den Weg gemacht nach Butterland: „Das Land fetter Geschichten.“
„Der erste Ton muss nicht gleich ‚Bähm’ machen. Es gibt im Netz auch die Möglichkeit, langsam und tiefgründig zu erzählen.“
Die Butterland GbR ist ein Kollektiv aus Journalisten, Kameraleuten, Datenanalysten und Designern. Hinzu kommen ein Filmemacher und ein Programmierer. Sie haben sich zusammengetan, um sich neben ihren Hauptberufen Zeit zu nehmen für das multimediale Darstellen von Geschichten. „Wir erzählen Geschichten so, wie wir es für sinnvoll halten“, sagt Köppen. Schöffel fügt an: „Und wir veröffentlichen sie dann, wenn wir es für sinnvoll halten.“
Multimediales Storytelling liegt im Trend. Diese Erzählformen verknüpfen Text, Bild und Video und packen sie in ein einheitliches Design. Im Mittelpunkt steht meistens ein Text, der die Geschichte trägt und strukturiert. Daneben werden dem Leser visuelle und auditive Elemente zur Hand gegeben, die ihm das Erzählte besser vermitteln sollen. Er soll das Gefühl haben, die Geschichte unmittelbar zu beobachten.
Die New York Times hat die Multimedia-Reportage vor drei Jahren mit ihrem Projekt Snowfall salonfähig gemacht. Seitdem haben viele große Verlagshäuser in Amerika und Europa nachgezogen. Die Süddeutsche Zeitung, der Guardian, die Washington Post und andere haben viel Geld investiert in eigene Multimedia-Reportagen. Wolfgang Jaschenksy leitet bei der Süddeutschen Zeitung die Entwicklungsredaktion. Das ist eine Art Forschungslabor für neue Erzählformate im Netz. Unter anderem hat Jaschensky an der Multimedia-Reportage „Der Schwarze Tod“ mitgearbeitet, welche die SZ im vergangenen Jahr online veröffentlichte. Darin beschäftigen sich die Autoren mit den Auswirkungen der Pest auf Madagaskar und schildern eindringlich die Lebenssituation der Menschen vor Ort. Die einzelnen multimedialen Elemente machen aus der Reportage ein intensives Stück.
Doch lohnen sich der Aufwand und die Kosten für solche Projkete überhaupt? „Natürlich machen wir ein Minus-Geschäft“, sagt Jaschensky. Allerdings dürfe man so eine Rechnung nicht aufmachen. Es gehe vielmehr darum, dem Leser multimediale Erzählformen im Netz anzubieten.
Für viele Journalisten gilt die Multimedia-Reportage als Hoffnungsträger im Online-Journalismus. Schließlich können damit komplexe Themen mit einem großen Informationsgehalt spannend aufbereitet werden. Dadurch entsteht ein Gegengewicht zu Texten, die durch ihre Kürze und hohe Erzählgeschwindigkeit den Online-Leser schnell informieren. Doch eine Flut der Veröffentlichung von Multimedia-Reportagen hat dazu geführt, dass der Hype wieder abzuebben scheint. Kritiker behaupten, der Umfang vieler Multimedia-Reportagen überfordere die Leser. Diese würden lediglich von Video zu Video klicken und dabei den Text vernachlässigen. Der Online-Journalist Richard Gutjahr vergleicht multimediales Storytelling mit der Seite Drei in Zeitungen: „Ich schlage am Vormittag die Zeitung auf und nehme mir für den Abend vor, die Seite Drei zu lesen. Wenn ich aber erschöpft von der Arbeit nach Hause komme, lese ich sie nie. Genauso ist es, wenn ich bei Twitter eine Multimedia-Reportage favorisiere.“
„Wenn der Hype um die Multimedia Reportage in den Verlagen abflacht, dann beginnt die Zeit der Geschichten wieder.“
Uli Köppen und Robert Schöffel sitzen im ersten Stock des Café Kosmos, einer Bar in der Nähe des Hauptbahnhofs. Wie andere BR-Mitarbeiter kommen auch sie öfter nach Feierabend hierher und trinken ein Bier. Köppen und Schöffel arbeiten in der Abteilung Web-Innovation, die sie selbst mit aufgebaut haben. Dort testen sie zusammen mit Datenexperten, Videospezialisten und Grafikern unter anderem Software für neue Erzählweisen im Netz. Schöffel kommt aus dem Sportjournalismus. Der 35-Jährige, der einen grauen Kapuzenpullover und Jeans trägt, sagt: „Eine Multimedia-Reportage im Netz muss noch viel besser sein als eine Seite Drei in der Zeitung. Denn die Konkurrenz ist im Netz viel stärker.“
Köppen hat vor ihrem jetzigen Job im Kulturressort des BR gearbeitet. Die 33-Jährige glaubt, dass viele Verlage gerade mit Multimedia experimentieren. „Das ist im Moment ein Geist, der in den Medienhäusern herumschwirrt“, sagt sie. Das führe allerdings dazu, dass Erzählungen falsch verpackt würden. „Die meisten Multimedia-Reportagen sind gut aufbereitete Luftblasen. Aus diesem Grund freue ich mich, dass der Hype langsam abflacht. Denn dann beginnt die Zeit der Geschichten wieder. Und dann kann man sie wieder im richtigen Medium finden.“
Ein Recherchezeitraum von vier Jahren: Bei Butterland geht das
Die beiden BR-Journalisten sind überzeugt davon, dass ein Thema seine natürliche Erzählform selbst annimmt, wenn man Zeit und Geduld mitbringe, wie sie sagen. Bisher hat das Butterland-Kollektiv in Zusammenarbeit mit dem BR und der TAZ eine multimediale Webdokumentation mit dem Titel „Warten auf Heimat“ veröffentlicht: Darin geht es um den Ort Geisenhausen in Niederbayern, wo ein Altenheim in eine Flüchtlingsunterkunft umgewandelt worden ist. Die Journalisten beobachten, wie Flüchtlinge und Einheimische Vorurteile abbauen und sich gegenseitig annähern. Köppen, die in Geisenhausen aufgewachsen ist, hat vor etwa vier Jahren angefangen, für die Geschichte zu recherchieren, als sie von den Plänen hörte. Seitdem habe sie die Story immer im Hinterkopf gehabt, erzählt sie. „Wir hatten keinen vorgefertigten Filter im Kopf. Wir haben einfach nur beobachtet und der Geschichte ihre natürliche Form selbst annehmen lassen.“ Mehrmals sind die Butterland-Mitglieder nach Geisenhausen gefahren. Sie haben die Menschen vor Ort interviewt und sogar eine Informationsveranstaltung zu ihrem Projekt auf die Beine gestellt. Erst aus diesem Prozess hat sich die journalistische Umsetzung ergeben. Schöffel erklärt: „Die Ästhetik der Videos hat sich aus dem Inhalt erschlossen. Aufgrund dessen haben wir sehr langsam geschnitten.”
Das Eregbnis ist eine mehrgliedrige Webdokumentation. Einzelne Videos, in denen die Protagonisten über die Situation im Dorf und über sich selbst reflektieren, führen durch die Geschichte. Der Text fungiert bei „Warten auf Heimat“ eher als Zusatzinformation. Die Autoren gehen etwa auf die politische Situation in Europa ein oder stellen einzelne Protagonisten genauer vor.
„Es muss möglich sein, Geschichten ihrem Inhalt nach gerecht erzählen zu dürfen. Ansonsten wäre es eine traurige Welt.“
Der BR wollte das erste Projekt von Butterland zunächst nicht unterstützen. Also haben die Journalisten die Produktion aus eigener Kasse gezahlt. Erst als der BR und die TAZ „Warten auf Heimat“ in Gänze gesehen hatten, waren sie von der Umsetzung überzeugt und beteiligten sich finanziell. Köppen sagt: „Man kann die Geschichte auch anders erzählen, man kann jede Geschichte anders erzählen. Wichtig ist ein gutes Bauchgefühl.“
Köppen und Schöffel haben bereits die nächste Geschichte für Butterland im Visier. Sie wollen allerdings noch nicht zu viel davon verraten. „Wenn wir Zeit haben, kümmern wir uns darum“, sagt Schöffel abwickend. Denn ob hinter der Idee wirklich eine Geschichte steckt, können die beiden noch nicht sagen. Schöffel meint: „Wir befinden uns in einer Experimentierphase. Da muss man auch scheitern dürfen. Doch es muss möglich sein, Geschichten ihrem Inhalt nach gerecht erzählen zu dürfen. Ansonsten wäre es eine traurige Welt.“

Ulrike Köppen (33) und Robert Schöffel (35) sind der Meinung, dass jede Geschichte eine natürliche Form hat, in der sie erzählt werden will. Um diese zu finden, braucht man vor allem Zeit.
Butterland
Das Wort Butterland ist ein Begriff der Seemannssprache. Damit bezeichneten Seefahrer Inseln oder Küsten am Horizont, die durch Dunst oder Nebel vorgetäuscht werden und zerschmelzen, sobald die Sonne scheint. Die optische Täuschung hieß auch Treibland. Im Gegensatz zur Fata Morgana beruht sie nicht auf Luftspiegelung. Aus Wikipedia
Snowfall löst eine Lawine von Multimedia-Reportagen aus
2012 hat die New York Times mit Snowfall neue Maßstabe im multimedialen Erzählen gesetzt. Seitdem haben viele große Verlagshäuser nachgezogen und ebenfalls Multimedia-Reportagen produziert. Hier eine Auswahl:
2012
Snowfall (The New York Times)
2013
Firestorm (The Guardian)
NSA Files Decoded (The Guardian)
A Game of Shark and Minnow (The New York Times)
Arabellion (Rhein-Zeitung)
Am Berg der Fahrradverrückten (Die Zeit)
Das neue Leben der Stalinallee (Die Zeit)
Pop auf’m Dorf (WDR)
2014
Der Schwarze Tod (Süddeutsche Zeitung)
Der Zaun (Süddeutsche Zeitung)
Exodus – Die große Flucht aus Syrien (Der Spiegel)
Mein Vater ein Werwolf (Der Spiegel)
2015
Journey to the Centre of the Earth (BBC)
Scaling Everest (The Washington Post)
Im Land der Pinguine (Frankfurter Allgemeine)

Wolfgang Jaschensky (35) leitet die Entwicklungsredaktion bei der Süddeutschen Zeitung.