Jetlag, Nerven­zusammen­bruch, Psychose – mentale Gesundheit auf Reisen

Negative Folgen von Reisen auf die mentale Gesundheit sind untererforscht. In Fachkreisen kursieren dabei schon länger kuriose Phänomene wie das Jerusalem-Syndrom, bei dem sich Tourist:innen für Heilige halten. Neue Forschungsmethoden wie Echtzeit-Datenerhebung können unser Verständnis verbessern. Eins scheint aber klar: Reisen tut uns meist gut.

Von Julia Guldan

Auf Reisen entfliehen wir dem Alltagsstress, erweitern den Horizont und erholen uns. Kein Wunder, dass Reisen in ferne Länder seit Jahrzehnten kontinuierlich zunehmen. Doch: nicht immer ist auf Reisen alles so rosarot wie der Sonnenuntergang am Meer. Reisen kann psychisch belasten, es kann Rezidive bei psychisch Erkrankten begünstigen und in besonderen Fällen vermutlich sogar Psychosen auslösen.

Wieso?

So entsteht Stress auf Reisen

Reisen gehen meist mit einer ganzen Bandbreite von Stressoren einher: Zeitverschiebung, Reizüberflutung, anderem Klima und eventuell einem Kulturschock. Allein der Ortswechsel und die neue Umgebung können anstrengen – schließlich muss unser Gehirn jede Menge Neues verarbeiten. Hinzu kommen gegebenenfalls Sprachbarrieren, Isolation, Heimweh. All diese Faktoren können als anxiogene oder depressiogene Faktoren wirken, also das Erst- oder Wieder-Auftreten psychischer Störungen triggern. Doch Studiendaten gibt es nur wenige. Eine Übersichtsarbeit zum Thema Jetlag legt aber z.B. einen Zusammenhang zwischen Jetlag und Psychose-Rezidiven nahe (Katz 2011). Wissenschaftlich beschrieben ist auch die „Reise-Fatigue“: die veränderte Tagesroutine, Jetlag und reisebezogene Ängste auf Fernreisen können temporär zu verminderter Leistung und Motivation führen (Waterhouse 2004).

Wie bitte?

Kann Reisen Psychosen auslösen?

Ich befand mich bei dem Gedanken in Florenz zu sein und durch die Nähe der großen Männer in einer Art Ekstase… Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen, in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen

Mit diesen Worten beschreibt der Schriftsteller Stendhal seine Empfindungen während seiner Reise nach Florenz, in Italien. Wie ihm geht es einigen Tourist:innen in der für Kunst- und Bauwerke bekannten Metropole in der Toskana. Die Psychologin Graziella Magherini beschreibt im Jahr 1990 100 Fälle dieser Art – der Begriff „Stendhal-Syndrom“ (auch: „Florenz-Syndrom“) ist geboren und verbreitet sich international. „Sie haben keine psychologische Vorgeschichte und werden psychotisch“, erklärt der US-amerikanische Psychiater Dr. Thomas Valk. Er hat mit seinem Kollegen Dr. Regis Airault aus Paris ebensolche Reise-Psychosen systematisch untersucht. „Die Psychose umfasst eventuell Halluzinationen, mit Sicherheit aber Wahnvorstellungen“.

In Jerusalem, einem religiös extrem bedeutsamen Ort, findet sich laut Dr. Valk klinisch „das gleiche Bild“. Auch beim sogenannten „Jerusalem-Syndrom“ haben Betroffene keine Vorgeschichte und werden plötzlich psychotisch. Gemein haben die Syndrome auch, dass die Symptome genauso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetreten sind. „Die Fälle waren einfach zu behandeln, mit minimaler Medikation und nach vier oder fünf Tage waren sie wieder normal“, beschreibt Dr. Valk. Wirklich kurios. In Jerusalem gab es sogar so viele dieser kuriosen Fälle, dass ein Krankenhaus extra für Tourist:innen mit dem Syndrom eingerichtet wurde.

Der dritte Kontinent, das gleiche Phänomen: Auch in Nepal errichtet ein Reisearzt eine Klinik, speziell für englischsprachige Tourist:innen mit Psychosen. „Fast 30 % seiner Psychose-Patient:innen hatten keinerlei Vorgeschichte psychischer Erkrankungen jeglicher Art“, so Dr. Valk. Und die gleichen psychotischen Symptome auf Reisen finden sich auch noch auf einem vierten Kontinent. Das „Hawaii-Syndrom“ oder auch „Honeymoon Hawaii syndrome“ beschert vor allem japanischen Hochzeitspaaren Flitterwoche der anderen Art.

 

Wo? – Besondere Gebiete, besondere Störungen

Kuriose psychische bis psychotische Reise-Syndrome wurden auf den verschiedensten Orten der Welt beschrieben. Einen Überblick gibt die interaktive Karte.

Wie? – Ursachen der Reise-Psychosen

Vorab: Die Datenlage zu den Syndromen ist schlecht. Eine einheitliche Diagnose á la „Reise-induzierte Psychose“ gibt es nicht (Es gibt aber eine passende Diagnose im anerkannten Diagnose-Manual. Diese erfahrt ihr im Video.). Zur Entstehung der Reise-Psychosen gibt es keine gesicherte Erklärung, aber viele Theorien. Schon der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freund, hatte dazu eine Idee: „Als Freud das Forum in Rom besuchte, hatte er keine psychotische, aber eine tief emotionale Erfahrung. Er attribuiert diese mit einem unbewussten Überbleibsel des Ödipus-Komplexes.“, erzählt Dr. Valk. Weitere Theorien zur Entstehung der besonderen Psychosen und wer besonders gefährdet ist, erfahrt ihr im gesamten Interview.

Wohin?

Reisempfehlung aus der Wissenschaft

In der Tourist2-Studie wurden gesundheitsbezogene Daten von Reisenden mit einer Handy-App erfasst. Dies ermöglicht eine authentische Echtzeit-Datensammlung unterwegs auf Reisen. Die Auswertung dieser einzigartigen Daten überrascht sogar die Forschenden: Insbesondere im Bezug auf mentale Gesundheitsfaktoren finden sie Muster in den Daten. Welche Länder sind am risikoreichsten für die mentale Gesundheit und wieso? Eine Subgruppe von Reisenden ist besonders gefährdet. Und wohin sollten wir für unser psychisches Wohlbefinden am besten reisen? Die Forscherin Dr. Andrea Farnham von der Universität Zürich berichtet die spannendsten Studienergebnisse im Video.

Was tun?

Erfahrungsbericht eines Nervenzusammenbruchs „abroad“

„Ich fühlte mich, als hätte ich meine Persönlichkeit verloren“ – Die Engländerin Claire Hearn hat als Expat in Italien viele der psychologischen Reise-Stressoren durchgemacht – Kulturschock, Sprachbarriere, soziale Isolation. Schließlich hatte Sie einen Nervenzusammenbruch. Statt sich unterkriegen zu lassen, hat sie den Zusammenbruch zu ihrem größten Durchbruch gemacht. Sie hat ein Buch geschrieben – Passagen davon zieren nun in ihrer Wahlheimat Italien die Straßen von Palermo. Eine unglaubliche und inspirierende Geschichte.

Aus ihrer Erfahrung hat sie gelernt, wie man psychologische Krisen möglichst vermeiden kann. Ihre drei wichtigsten Tipps berichtet sie in drei Minuten im Video.

Fazit

Reisen hat für die meisten Menschen ohne Vorgeschichte psychischer Erkrankung viele positive Effekte für die mentale Gesundheit. Wenn man ein paar Punkte beachtet, kann fast nichts mehr schiefgehen. Man sollte sich zum Beispiel gut überlegen, wieso man eigentlich reisen möchte.
Fälle von reisebezogener Psychose sind sowieso extrem selten. Ob hier diese Reise selbst der auslösende Faktor ist, gilt es noch zu erforschen.
Also erstmal: Gute Reise!

 

Hier findest du Hilfe

 

Literatur

Katz G (2011) Jet lag and psychotic disorders. Curr Psychiatry Rep 13:187–192

Waterhouse J, Reilly T, Edward B (2004) The stress of travel. J Sports Sci 22:946–965

www.springermedizin.de/emedpedia/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/psychische-stoerungen-auf-reisen-und-bei-auslandsaufenthalten?epediaDoi=10.1007%2F978-3-642-45028-0_93 (Zuletzt besucht: 28.04.2023)

Airault R, Valk TH (2018) Travel-related psychosis (TrP): a landscape analysis. J Travel Med 25(1)

Farnham A, Baroutsou V, Hatz C, et al. (2022) Travel behaviours and health outcomes during travel: Profiling destination-specific risks in a prospective mHealth cohort of Swiss travellers. Travel Med Infect Dis. 47:102294

Wray M, Miller M, Gurvey J et al (2008) Leaving Las Vegas: exposure to Las Vegas and risk of suicide. Soc Sci Med 67:1882–1888

Gross C, Piper TM, Bucciarelli A et al (2007) Suicide tourism in Manhattan, New York City, 1990–2004. J Urban Health 84:755–765

Masood K, Gazzaz ZJ, Ismail K et al. (2007) Pattern of psychiatry morbidity
during Hajj period at Al-Noor Specialist Hospital. Int’l J
Psychiatry Med 32:163–172

Langen D, Streltzer J, Kai M. (1997) ‘Honeymoon psychosis’ in Japanese
tourists to Hawaii. Cult Divers Ment Health 3:171–174

Airault R. (2000) Fous de L’Inde: Delires d’Occidentaux et Sentiment
Oceanique. Paris: Payot & Rivages

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