
Häusliche Gewalt gegen Männer: Wenn Frauen zu Tätern werden
Von Denise Lehmann
Es ist ein Tabuthema: Auch Frauen können ihre Partner beleidigen, kontrollieren, schlagen. Wie gerät Mann in diese Situation? Wie kommt er wieder heraus? Ein Betroffener erzählt.
Tami Weissenberg ist das, was man einen „ganzen Kerl“ nennt – 1,93 m groß und stämmig. Er ist eloquent, friedfertig und beruflich erfolgreich. Und doch ist ihm widerfahren, was die meisten in Bezug auf Männer für unmöglich halten: Er erfuhr häusliche Gewalt.
Es begann im Kleinen: Seine Partnerin bestimmte, wie er sich kleidete. Lieblingsstücke, die ihr nicht gefielen, mussten weg. Kontakte, die sie ablehnte, brach er ab. Weissenberg schlug Einladungen von Freunden und Familie aus. Er zog in ihr Haus und stimmte einem gemeinsamen Konto zu, auf das nur sie Zugriff hatte. So geriet er Stück für Stück in die Abhängigkeit. So, wie seine Abhängigkeit wuchs, wuchsen auch ihre Ansprüche. Sie sagte, sie sei in der Vergangenheit misshandelt worden. Erklärte, sie wolle sich jetzt ein besseres Leben aufbauen. Weissenberg fühlte sich dafür verantwortlich, dass es ihr gelang.
Weissenberg mied Gespräche über das, was hinter verschlossener Tür passierte: Tat er nicht, was sie verlangte, fürchtete er zunächst nur, sie zu enttäuschen. Er lernte, mehr als das zu fürchten. Mehrfach wurde er mit Hämatomen und Brüchen im Krankenhaus behandelt – Verletzungen, die sie ihm zugefügt hatte. Sieben Jahre lang setzte er sich der Kontrolle und Misshandlung durch seine Partnerin aus. Dann floh er.
Heute steht Weissenberg wieder mit beiden Beinen fest im Leben und engagiert sich für Männer, die dasselbe erlitten haben wie er. Er gründete den Hilfsverein Weissenberg e.V. – Männernetzwerk Plauen/Vogtland. Er reist, hält Vorträge an Universitäten, gibt Interviews und teilt seine Erlebnisse in zwei Büchern, um Bewusstsein für das Thema zu schaffen: „Ich stehe noch aufrecht. Und da sage ich mir: Das ist mein Teil, den ich in der Gesellschaft beitragen möchte. Einfach dieses nackte Aufzeigen: Niemand ist davor sicher.“
Häusliche Gewalt gegen Männer: Statistik des Bundeskriminalamtes.
Weissenbergs Geschichte ist kein Einzelfall. Laut Kriminalstatistischer Auswertung zur Partnerschaftsgewalt 2019 waren knapp 27.000 Männer betroffen. Damit ist jede fünfte von häuslicher Gewalt betroffene Person männlich.
Diese Zahlen zeigen nicht das ganze Ausmaß häuslicher Gewalt. Das BKA erfasst nur Fälle, in denen Betroffene Anzeige erstatten. Die vermutete Dunkelziffer liegt sowohl bei Männern als auch bei Frauen deutlich höher. Erfasst werden nur strafbare Übergriffe. Gewalt, die keine sichtbaren Spuren hinterlässt, fällt aus dem Bild. Häusliche Gewalt beginnt jedoch lange vor dem Schlag ins Gesicht.
Das Gewaltpotenzial von Frauen
Die bevorzugte Waffe gewaltbereiter Frauen ist die Sprache – häusliche Gewalt fängt mit Beleidigung, Herabsetzung und Verleumdung an. Solche Übergriffe treten häufig gemeinsam mit Kontrolle über das soziale Umfeld und Finanzen sowie Erpressung auf – oft in Bezug auf gemeinsame Kinder –, die den Partner in die Abhängigkeit drängen.
Frauen schlagen zwar seltener zu, verwunden dabei aber ebenso schwer wie Männer. Das bestätigt Dr. Verena Kolbe. In der Gewaltopferambulanz der Universitätsmedizin Rostock untersucht sie Betroffene und stellt fest: „Die Verletzungsmuster und auch die Verletzungsintensität von Männern sind denen der Frauen sehr ähnlich. Auch die Männer, die wir hier sehen, haben teilweise beachtliche Verletzungen davongetragen. Das geht von Hämatomen über Schürfungen bis hin zu Verbrühungen.“
Die Statistik des BKA unterstreicht die Notwendigkeit, das Gewaltpotenzial von Frauen ernst zu nehmen: Auch Männer werden in Partnerschaften Ziel schwerster Gewaltverbrechen – wenn auch deutlich seltener als Frauen. 2019 wurden über 90 Tötungsdelikte an Männern im häuslichen Umfeld verzeichnet.
Häusliche Gewalt gegen Männer: Ursachen und Dynamik
Ursachen für die Konflikte sind unter anderem psychische Erkrankungen, Drogen, Alkohol und Eifersucht. Auch Geldsorgen spielen eine Rolle. Ein Blick in die BKA-Statistik zeigt: Etwa 50% der Betroffenen sind zwischen 30 und 50 Jahre alt. Häusliche Gewalt fällt damit vielfach in die Phase der Partnerschaft, in der Familien und Existenzen gegründet und gesichert werden. Läuft es nicht glatt, kann die Spannung in Aggression umschlagen.
In Bezug auf die Dynamik der Gewalthandlung stellt Kolbe fest, dass Männer sich seltener wehren als Frauen. Frauen versuchen, die Angriffe des Partners abzuwehren und erleiden dabei häufiger abwehrtypische Verletzungen. Männer sind eher passiv und lassen es über sich ergehen und warten ab, bis der Übergriff vorbei ist. Kolbe spricht allerdings auch von Fällen, in denen es zu wechselseitiger Gewalt in Partnerschaften kam, wegen der beide Betroffene sich in der Opferambulanz vorstellten.
Warum Männer sich eher zurückhalten, wenn Frauen sie angreifen – darüber lässt sich nur mutmaßen: Kolbe zieht ihre Erziehung in Betracht, in der Gewalt gegen Frauen und Kinder stigmatisiert wird.
Werden Männer von Frauen angegriffen, balancieren sie auf einem schmalen Grat: Werden sie Täter oder Opfer? Spielen sie ihre körperliche Überlegenheit nicht aus, kippt das klassische Machtgefüge und sie werden verwundbar. Männer, die sich ihres „natürlichen“ Schutzschildes beraubt sehen, wissen oft nicht, wie ihnen geschieht, wenn eine gewaltbereite Partnerin diese Schwachstelle ausnutzt.
Männer schweigen
Es waren nicht die Gewaltausbrüche, die Weissenberg schließlich zur Flucht bewegten. Der Anlass war erstaunlich still: „Als ich eines Tages furchtbare Halsschmerzen hatte und mir auf der Arbeit bewusstwurde, dass ich als erwachsener, beruflich erfolgreicher Mensch nicht mal in der Lage bin, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause noch selbstbestimmt in die Apotheke zu fahren und etwas gegen meine Beschwerden zu tun, schaltete ich mein Telefon aus und kehrte nie wieder zurück.“
Als Weissenberg sich zu seiner spontanen Flucht entschloss, wusste er nicht, wohin: „Ich hab im Auto auf einem Rastplatz gewohnt und von dort angefangen, mir nach und nach mein Leben wieder aufzubauen. Vom Rastplatz zu Bekannten, von dort ins Hotel und von dort aus wieder in eine eigene Wohnung.“
Viele der Bekannten, die ihn seinerzeit aufgenommen hatten, wissen bis heute nicht, was Weissenberg in der Partnerschaft widerfahren ist: „Die meisten haben nur gesehen: Ich war auf einmal wieder da und stelle komische Fragen und bitte um komische Dinge.“
Das Schweigen ist typisch für betroffene Männer – und einer der wesentlichen Gründe, weshalb sie oft jahrelang in der quälenden Situation verharren. Sie fürchten, das Gesicht zu verlieren, denn das männliche Rollenbild ist für sie selbst und Außenstehende nur schwer mit ihren Erlebnissen in Einklang zu bringen. Wie spricht man über etwas, das es in den Köpfen der Menschen nicht gibt?
Was tun bei häuslicher Gewalt gegen Männer?
Während für Minderjährige ein Kinder- und Jugendhilfesystem besteht, das häusliche Gewalt aufdecken und Schutz bieten soll, sind erwachsene Betroffene grundsätzlich auf Eigeninitiative zurückgeworfen. Für viele ist es eine hohe, für manche eine unüberwindbare Hürde, sich Hilfe zu suchen.
Für Männer kam bis vor wenigen Jahren erschwerend hinzu, dass bestehende Hilfsangebote in erster Linie Frauen ansprachen. Aus der Perspektive von Hilfseinrichtungen schlüssig und notwendig, sind sie doch häufiger von häuslicher Gewalt betroffen. Für Männer ein Dilemma: Würde man ihnen dort glauben, wo Frauen und Kinder Schutz vor Männern suchen? „Dieses ‚Ich nehme den Mann als betroffenes Wesen wahr‘, das hat mir damals gefehlt,“ sagt Weissenberg. „Das hätte ich ganz dringend gebraucht. Heute sind das anders aus. Heute gibt es Angebote.“

Diese Angebote für Männer reichen von Online-Beratung über ein Männerhilfetelefon bis hin zu persönlichen Beratungsgesprächen. In jüngerer Zeit konnte auch das Angebot im Bereich der Männerschutzwohnungen ausgebaut werden: 27 Plätze werden aktuell bereitgestellt, drei davon vom Weissenberg e. V.
Unabhängig vom Geschlecht kann jedes Opfer häuslicher Gewalt das Angebot der Gewaltopferambulanzen in Anspruch nehmen: Hier werden ihre Verletzungen für den Fall eines Rechtsstreits dokumentiert. Zudem sind die Ambulanzen gut vernetzt und können bei Bedarf Kontakte ins Hilfesystem vermitteln.

Es ist wichtig, Betroffene nicht allein zu lassen: Ein aufmerksames Umfeld kann einen langen Leidensweg verhindern. Auch Weissenberg hätte sich gewünscht, dass Bekannte, Freunde und Familie seine oft fadenscheinigen Erklärungen und Ausreden für Blessuren durchschauen und ihm damit einen Ausweg öffnen.
Erste Anlaufstellen für betroffene Männer

Anzeichen für häusliche Gewalt

Interviewpartner

Dr. med. Verena Kolbe
Dr. med. Verena Kolbe arbeitet in der Gewaltopferambulanz der Universitätsmedizin Rostock. Gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. med. Andreas Büttner forschte sie zu Risikofaktoren und Prävalenz von häuslicher Gewalt gegen Männer. Die Studie wurde im » Ärzteblatt veröffentlicht.

Tami Weissenberg
Tami Weissenberg ist Betroffener, Buchautor und Gründer des » Weissenberg e. V. Männernetzwerk Plauen – ein Projekt, das er ehrenamtlich und mit großem Engagement begleitet. Der Verein bietet Beratung, eine Schutzwohnung sowie Workshops und Seminare zum Thema Prävention.
Betroffene berichten über ihre Erfahrungen

Darjeeling pur
Tami Weißenberg
Verlag: Edition outbird
ISBN: 978-3-95915-112-2
Seiten: 175 Seiten
Preis: 11.90 €

Weg ins Leben
Tami Weissenberg
Verlag: Edition Outbird
ISBN: 978-3-948887-17-9
Seiten: 128
Preis: 11.90 €
Erscheint Ende März 2021
Weitere Links zu Berichten
- Tabuthema Gewalt gegen Männer | Nachrichtenbeitrag in ZDF heute vom 4. Januar 2021 |
https://www.zdf.de/nachrichten/heute-in-deutschland/tabuthema-gewalt-gegen-maenner-100.html#xtor=CS5-95 - Häusliche Gewalt gegen Männer – Tami steckte in einer toxischen Beziehung | Podcast „Tabulos“ rbb | https://www.ardaudiothek.de/tabulos/haeusliche-gewalt-gegen-maenner-tami-steckte-in-einer-toxischen-beziehung-gespraech/80826312
- Weibliche Gewalt in Partnerschaften. Thomas Bunge und seine Geschichte | Podcast „Leben“ SWR2 | https://www.ardaudiothek.de/leben/weibliche-gewalt-in-partnerschaften-thomas-bunge-und-seine-geschichte/68125500
Artikelbild: Pexels – Rodnae