Das Elfmeterschießen ist die spannendste, aber auch grausamste Entscheidung im Fußball. Extremsituation und Grenzerfahrung. Der Elfmeter aus vier Perspektiven: Torwart, Schütze, Fan und Sportpsychologe.
1. Blickwinkel: Der Torwart
Thomas Attenhauser tänzelt auf Zehenspitzen auf der Torlinie, macht sich groß und die Arme breit. Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt. Der Schütze, kein Geringerer als Thomas Paulus, der 173 Mal in erster und zweiter Bundesliga gespielt hat, handelt, hat den 28 Jahre alten Torwart des TV Aiglsbach fest im Blick. Und umgekehrt. Paulus läuft an und schießt. Attenhauser tippelt wenige Zentimeter auf die linke Seite, drückt sich kraftvoll mit dem Sprungbein ab, fliegt in die rechte Ecke und fährt die Pranke aus. Der Ball titscht gegen die Innenseite seines Torwarthandschuhs, auf den nassen Rasen und ins Aus.
Jubel. Der Keeper, der in seiner Jugend für den FC 04 Ingolstadt aktiv war und schließlich über den Landesligisten FC Gerolfing zu seinem Heimatverein zurückgefunden hat, hebt die Fäuste vor die Brust, schreit seine Freude heraus und bewegt sich zu einem ausgewechselten Mitspieler, der während des Elfmeterschießens hinter dem Tor mitgefiebert hat. „Einmalig, gigantisch, ein brutal gutes Gefühl“ – an Superlativen spart Thomas Attenhauser nicht.

Und das zurecht: Der TV Aiglsbach, ein kleiner Verein aus dem niederbayerischen Landkreis Kehlheim, der in der Bezirksliga (7. Liga) spielt, hat soeben die Profis des SSV Jahn Regensburg aus dem Toto-Pokal, der bayerischen Variante des DFB-Pokals, geworfen. „Mir war im ersten Moment gar nicht bewusst, dass das der entscheidende Elfmeter war. Ich bin nur zu meinem Mitspieler hinter dem Tor und wollte mit ihm feiern, dass ich den Ball gehalten habe“, erklärt Attenhauser:
„Erst dann habe ich gemerkt, dass meine Mitspieler auf mich zugestürmt kommen und wir das Spiel tatsächlich gewonnen haben.“
1200 Zuschauer, zwei Drittel der Einwohner Aiglsbachs, waren gekommen. Die Stimmung hielt, auch wenn die Gäste aus Regensburg nach nur 22 Spielminuten mit 2:0 in Führung lagen.
Ein weiteres Tor wollte dem Jahn nicht gelingen. Der TVA schaffte im zweiten Durchgang die Wende und rettete sich in die Nachspielzeit. Dass die Mannschaft zweimal von individuellen Fehlern Regensburgs profitierte – geschenkt! „Wir hatten überhaupt nichts zu verlieren und konnten daher ganz befreit aufspielen. Und dann läuft das im Fußball eben so“, blickt Attenhauser zurück:
„Ich war eigentlich ganz locker. Wie gesagt: Für uns war das ja keine Drucksituation.“
Für ihn trotz seiner Zeit beim FC Ingolstadt das Highlight seiner Karriere. Und das für seinen Heimatverein und mit seinen Freunden.

Thomas Attenhausers Elfmeter-Tipp:
„Ich warte lange und entscheide mich erst sehr spät für eine Ecke. Am wichtigsten ist ein selbstbewusstes Auftreten, um den Schützen zu verunsichern. Wenn ich auf der Linie stehe, lasse ich den Gegenspieler nicht aus den Augen und versuche, den Blickkontakt nicht abreißen zu lassen. Und gleichzeitig sage ich mir: ‚Komm, den hast du jetzt!'“
2. Blickwinkel: Der Elfmeterschütze
Erfolgsgeheimnisse beim Elfmeter
Ab durch die Mitte, gezielt in ein Eck oder ganz unkonventionell: Eine Umfrage lieferte vielfältige Aussagen. Ein kleiner Auszug.
„Ich versuche, nicht viel nachzudenken. Wohin ich schieße, entscheide ich immer erst kurz vor dem Schuss.“
„Bei mir läuft das immer gleich ab. Ich lege mir den Ball zurecht, nehme fünf Schritte Anlauf und schieße den Ball in die Ecke – in welche, verrate ich nicht.“
„Ich konzentriere mich nur auf den Ball, da ich dem Torwart nicht verraten will, in welche Ecke ich schieße.“
„Einfach draufhalten – hat bisher meistens geklappt.“
„Ich sage dem Torwart vorher, in welche Ecke ich schieße. Und das mache ich dann wirklich.“
„Ich schaue mir den Torwart an. Der steht meistens etwas mehr in einer Ecke. Und in die schieße ich dann.“
„Ich schieße so fest wie möglich in eine Ecke. Auch wenn der Torwart auf die richtige Seite springt, ist der Ball in unserer Klasse meistens drin.“
„Hoch ins Eck, da kommen die meisten Torhüterinnen nicht ran.“
„Ich warte, bis sich der Torwart bewegt und entscheide mich dann erst kurz vor dem Schuss für eine Ecke.“
Schusshöhen und ihre Erfolgswahrscheinlichkeit
%
Hoch
%
Mittig
%
Flach
Angaben basierend auf einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln, in der alle Elfmeter der WM- und EM-Turniere von 1982 bis 2012 (N = 236) untersucht wurden.
3. Blickwinkel: Der Fan
Ein Gastbeitrag von Christopher Köster
Europameisterschaft 2016, Deutschland gegen Italien, Viertelfinale. Wie so häufig in diesen Wochen habe ich alle Grundsätze der Neutralität über Bord geworfen, sitze mit Bier und Trikot auf der Couch und bin einfach Fan. Das Spiel hat es in sich, nach 120 Minuten gibt es keinen Sieger – Elfmeterschießen. Blick nach links: Ein befreundetes Pärchen, schon bei der Ankunft leicht fertig von einem langen Sommertag mit viel Wein, schläft mittlerweile tief und fest. EM, Deutschland, Elfmeterschießen – die beiden schlafen!
Ich habe schon viele Elfmeterschießen mitgemacht, Valencia 2001, Argentinien 2006, Chelsea 2012, 2016 Dortmund im Pokalfinale. Von Routine kann man nie sprechen. Auch dieses Mal werden die Hände schwitzig, der Puls schnellt hoch.
Kroos tritt an, Tor Deutschland, Jubel. Ich bleibe ruhig auf dem Sofa sitzen, allerdings mit fest aneinandergepressten Handflächen vor dem Mund. Wie beim Gebet. Ich bin alles andere als ruhig. Mich überfällt bei Elfmeterschießen ein extremer Pessimismus. Ich kann den Ausgang nicht selbst beeinflussen, nur hoffen. In Erinnerung bleiben meist die schlechten Ausgänge, Schweinsteiger gegen Chelsea, Müller gegen Atlético.
Dieses Elfmeterschießen ist noch ein wenig schlimmer. Schweinsteiger hat das Halbfinale auf dem Fuß, verballert jedoch. Wie fünf von neun anderen Schützen zuvor. Ich hab’s natürlich kommen sehen. Irgendwann tritt Jonas Hector an. Wie wir heute wissen, ist es Deutschlands letzter Schütze. „Oh Mann, Hector. Macht er eh nicht.“ Sekunden später ist das Pärchen auf dem Sofa wach. Irgendwie habe gejubelt, aber irgendwie war ich auch nur erleichtert, dass diese Tortur endlich vorbei ist.
Christopher Köster ist Sportjournalist und aktuell als Volontär beim Sport-Informations-Dienst (SID) in Köln tätig. Zuvor sammelte der gebürtige Westfale, der die eingesprungene Blutgrätsche noch auf einem Ascheplatz gelernt hat, u.a. beim Bayerischen Fußball-Verband, der Süddeutschen Zeitung und Eurosport journalistische Erfahrungen. Seiner Liebe für den Fußball ging er während des Studiums mit diversen Auswärtsfahrten nach, als Aktiver reichte es hingegen nur für die Kreisliga.
4. Blickwinkel: Der Sportpsychologe
Dr. Axel Mitterer ist staatlich geprüfter Sporttrainer, akademischer Mental-Coach sowie Lehrbeauftragter an den Universitäten Salzburg, Innsbruck und Bregenz. Der Österreicher arbeitet mit Einzelpersonen und Gruppen aus diversen Sportarten. Unter anderem betreut er die österreichische U19-Fußball-Nationalmannschaft und die Nachwuchsspieler der Fußballakademie Tirol.
Herr Mitterer, worauf kommt es für den Schützen beim Elfmeter an?
So einfach es klingt: Der Spieler muss zunächst einmal bereit sein, den Elfmeter überhaupt zu schießen. Das hat etwas mit Spielkompetenz zu tun. Der Schütze muss von sich selbst aus sagen: „Ich bin gut, trete zum Elfmeter an und verwandle ihn.“ Das ist eine Grundeinstellung und gehört – gerade als Führungsspieler – einfach zu meinen Aufgaben, wenn ich besser sein will als andere. Dabei geht es vor allem um das Selbstbild, das der Spieler von sich hat.
Was meinen Sie mit Selbstbild genau?
Man muss sich immer fragen: Was sind meine Stärken und was sind meine Schwächen? Mein Coaching-Ansatz ist es, hauptsächlich an den Stärken zu arbeiten – und nicht nur an den Schwächen. Wenn ich nämlich weiß, was meine Stärken sind, dann trete ich als Spieler viel selbstbewusster auf und kann ganz anders mit meinen Schwächen umgehen. Und das hilft auch beim Elfmeter.
Wie läuft das dann bei einem Elfmeter ab?
Aus Sicht des Schützen gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder warte ich, bis der Torwart etwas tut und sich für eine Ecke entscheidet, oder ich weiß von Beginn an, wohin ich schießen werde – ohne Rücksicht auf Verluste. Welche Variante die bessere ist, muss jeder individuell entscheiden.
Welche Rolle spielt die (Sport-) Psychologie bei einem Elfmeter?
Aus mentaler Sicht ist es eine Kombination aus Selbstbewusstsein und Körpersprache. Man spricht von einer Affirmation, einer Selbst-Bejahung. Ich muss mir gut zureden und innerlich überzeugt sein, dass ich den Elfmeter verwandeln werde. Dabei können auch Rituale helfen. Zum Beispiel kann ich vor dem Schuss dreimal tief durchatmen. Gut ist auch ein Lächeln – damit entspanne ich nämlich alle Muskeln. Das alles kann helfen. Aufpassen muss man jedoch, dass Rituale nicht in Aberglaube übergehen. Im Grunde geht es darum, die Lockerheit und Frechheit zu besitzen, auch für den FC Bayern einen Elfmeter schießen zu können.
Und die Körpersprache?
Am besten ist es, wenn ich den Torwart nicht aus den Augen lasse. Wenn ich mir den Ball hingelegt habe, muss ich beim Zurückgehen den Torwart immer im Blick haben. Wenn ich das schaffe, dann habe ich schon etwas gewonnen. Ich muss mir bewusst sein, dass ein Elfmeter für mich keine Last bedeutet, sondern es etwas Besonderes ist, dass ich für den Elfmeter ausgewählt wurde. Und wenn ich das weiß, dann kann ich auch mit breiter Brust antreten.
Wie kann man das trainieren? Können Sie konkrete Beispiele anführen?
Es geht vor allem um das Erfolgserlebnis. Wenn ich mit Stürmern trainiere, dann versuche ich, dass diese während der Einheit möglichst viele Tore erzielen. Wenn ich mit sechs oder sieben Angreifern zusammen bin, dann schießen wir pro Training über 1000 Tore. Ein Stürmer muss treffen, er muss das Geräusch, das das Netz macht, wenn der Ball einschlägt, verinnerlichen. Da ist es auch egal, aus welcher Distanz der Ball im Tor landet oder ob ein Torwart zwischen den Pfosten steht. Der Ball muss einfach rein. Das stärkt das Selbstvertrauen eines Spielers und hilft ihm letztlich auch bei einem Elfmeter.

„Aus mentaler Sicht ist ein erfolgreicher Elfmeter eine Kombination aus Selbstbewusstsein und Körpersprache.“

„Ein Stürmer muss im Training das Geräusch, das das Netz macht, wenn der Ball einschlägt, verinnerlichen. Der Ball muss so oft wie möglich ins Tor – und das stärkt das Selbstvertrauen eines Spielers und hilft ihm letztlich auch bei einem Elfmeter.“
Bisher haben wir über den Schützen gesprochen. Wie sieht es denn beim Torwart aus?
Das kann man nicht vergleichen, denn der Torwart befindet sich in einer ganz anderen Situation. Er steht einfach nicht so sehr unter Druck und kann eigentlich nur gewinnen. Andererseits profitiert er auch davon, dass der Schütze enorm unter Druck steht.
Welche Tipps können Sie einem Torwart an die Hand geben?
Klein machen darf er sich natürlich nicht. Das habe ich bisher aber auch noch nicht gesehen. Wichtig ist, dass er etwas Positives ausstrahlt. Auch der Torwart muss sich sagen: „Ich bin gut und kann den Elfmeter halten.“ Gut ist zudem, wenn er in der Vergangenheit schon einmal einen Elfmeter gehalten hat. Daran kann er sich erinnern und weiß, dass er nicht chancenlos ist. Ich persönlich halte nichts davon, wenn der Torwart vor dem Elfmeter versucht, den Schützen zu beeinflussen und auf der Linie irgendwelchen verrückten Dinge anstellt. Da ist es für mich die bessere Lösung, einfach dazustehen und erstmal gar nichts zu machen. Das ist aber etwas Situatives und muss von Fall zu Fall betrachtet werden. Das muss jeder so lösen, wie es für ihn am besten ist.
Gibt es für den Torwart noch weitere Empfehlungen?
Für mich ist es entscheidend, welche Farbe das Trikot des Torwarts hat. Wenn er ein neonfarbenes oder knallrotes Trikot trägt, dann ist der Schütze visuell extrem auf den Torwart fixiert und hat dadurch schon einen großen Vorteil. Wenn der Torwart aber etwas Gedecktes, zum Beispiel etwas Graues trägt, dann ist das für den Schützen schwieriger.