Der Mann, der versuchte, New York anzuhalten

Von Martin Kreklau

New York hupt und drängelt, rennt über rote Ampeln, blinkt, rast, rumpelt. New York hat keine Zeit zu schlafen, es wartet der nächste Termin, der nächste Kunde. Und dann ist da Steve.

Um in den USA telefonieren zu können, empfiehlt unser Dozent, SIM-Karten bei AT&T zu kaufen. Also mache ich mich mit einem Zimmerkollegen auf den Weg. Es ist Mittag und wir müssen uns durch die Menge kämpfen, die gerade Pause macht, auf der Suche nach etwas Essbarem. Als wir es zum AT&T-Shop geschafft haben, sind wir erleichtert: Außer fünf Verkäufern ist niemand da, es dürfte keine große Sache werden.

„Mein Kollege Steve ist gleich für Sie da“, sagt Verkäufer Nr. 1 strahlend und weist uns mit einer einstudierten Geste den Weg zum Verkaufstresen. Dann brüllt er nach hinten: „Steve, da ist Kundschaft für dich.“ Gebannt behalten wir den Vorhang im Auge, der offenbar zum Aufenthaltsraum der Mitarbeiter führt. Dann erscheint er: Steve.

Der Vorhang wird zaghaft zur Seite geschoben und auf einer Höhe von knapp zwei Metern kommt Steves Kopf zum Vorschein, den man aufgrund seiner Hautfarbe und des dunklen Stoffes fast übersehen hätte. Seine müden Augen scannen den Laden, und als er uns sieht, tritt er aus dem Schatten und kommt langsam auf uns zu. Ultralangsam. Wenn er noch langsamer gegangen wäre, wäre er rückwärts gelaufen. „Hi. I’m Steve“, sagt er, als er die fünf Meter bis zu uns geschafft hat. Er nimmt meine Hand in seine riesigen Pranke und schüttelt sie, dann macht er sich auf den langen Weg hinter den Tresen.

Eine SIM-Karte soll es sein. Steve kramt umständlich in ein paar Schubladen, ehe er ein kleines Kärtchen hervorholt und es behutsam auf den Tisch legt. Sein Mund steht offen. Er zieht das Tablet zu sich und versucht, die Bildschirmsperre zu öffnen. Sein dicker Zeigefinger nähert sich langsam dem Touchscreen. „Du musst wischen, mein Freund, sonst wird das nichts“, denke ich, schon tippt Steve gegen die Glasoberfläche. Das Tablet leuchtet kurz auf, dann wird der Bildschirm wieder schwarz. Steve ist verdutzt.

 

Immer wieder Ashley

Er probiert es noch zwei, drei Mal – ohne Erfolg. Ratlos hält er inne und starrt mit offenem Mund auf das Gerät. Dann erscheint unsere Rettung: Hinter dem Vorhang tritt eine Verkäuferin, mit dem gleichen Gewicht wie Steve, aber nur knapp halb so groß. Sie trägt eine Brille, deren Gläser so groß sind, dass eines reicht, um ihr Gesicht zu bedecken – inklusive der hohen Stirn.

„Du musst wischen“, sagt sie im Vorbeigehen. Der hält inne, überlegt, dann wischt er – und wie von Zauberhand öffnet sich das Menü seines Android-Gerätes. Steve ist zufrieden, hat aber vergessen, was er eigentlich machen wollte. Wieder mischt sich seine Kollegin ein: „Was willst du machen?“ „Wir brauchen eine SIM-Karte“, meldet sich mein Kollege zu Wort. Die Verkäuferin schiebt Steve mit ihrem Hintern locker zur Seite und ihre Finger fangen an, auf dem Tablet hin und her zu flitzen.

Ich schaue auf ihr Namensschild. Das kann doch nicht deren Ernst sein – auch diese Frau heißt Ashley. Gibt es in Amerika keine anderen Frauennamen? Sie zeigt Steve, was er machen muss und wendet sich wieder einem anderen Kunden zu. Steve tippt auf dem Tablet rum, baut das Handy auseinander, stopft SIM-Karten hinein, wartet, es funktioniert nicht, er kramt eine neue SIM-Karte hervor, tippt auf dem Tablet rum … so geht das gefühlte Ewigkeiten.

Nach der zehnten eingebauten Karte gibt er auf. „Es funktioniert nicht“, sagt er und drückt meinem Kollegen das Telefon wieder in die Hand. Auf dem Display sehe ich, dass es ein Netz gefunden hat. Meine Entdeckung teile ich Steve so lautstark mit, dass Ashley uns hört. Sie wendet sich der Szene noch einmal zu. „Klar funktioniert das nicht. Du musst es erst freischalten.“ Wir wollen uns mit der flachen Hand gegen die Stirn schlagen. „Was für ein Raketenforscher“, sage ich leise zu meinem Kollegen.

Nach über einer Stunde können wir den AT&T-Laden wieder verlassen, mit funktionierender SIM-Karte im Handy und der Erkenntnis, dass es gut ist, wenn es in New York Menschen wie Steve gibt. Still und entschleunigt. Der menschgewordene Gegenentwurf zu dieser ruhelosen Stadt.

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