Ängste, Panik, Depression: Wie der Corona-Lockdown die Psyche angreift

von Nadine Segert-Hess

Am langen Corona-Lockdown zerbricht so manche Psyche. Doch wer eigentlich schnelle Hilfe benötigt, muss oft monatelang auf einen Termin beim Therapeuten warten, denn es gibt zu wenig Therapieplätze. So stürzen die Betroffenen immer weiter ab.

 

Susanne Meier* weiß nicht mehr weiter. Der Lockdown hat sich für sie zu einem Alptraum verwandelt: Nie hätte sie gedacht, dass ihr der Kontakt zu anderen Menschen so fehlen kann. „Eine einfache Umarmung bedeutet mir jetzt auf einmal die Welt“, sagt sie. Um die Einsamkeit zu ertragen, frisst Susanne. Sie frisst buchstäblich alles in sich hinein, denn sie leidet unter einer Essstörung, der so genannten „Binge-Eating-Störung“. Wenn sie eine Essattacke hat, stopft sie, ähnlich wie bei einer Bulimie, alles in sich hinein, was sie findet. Der Unterschied ist, dass Susanne das Essen nicht wieder erbricht. Langfristig führt das dazu, dass Menschen, die an einer Binge-Eating-Störung leiden immer dicker werden, bis sie ein dramatisches Übergewicht erreichen.

„Eigentlich war mein zuhause immer wie ein sicherer Hafen für mich. Mit Corona hat sich das geändert“, sagt Susanne. Nun ist ihr Zuhause wie ein Gefängnis, in dem sie alleine gegen einen unsichtbaren Feind kämpft. Mehr und mehr gleitet sie in Depressionen ab und die Essattacken werden immer exzessiver.

Ein Drittel der Erwachsenen leidet unter einer psychischen Erkrankung

Susanne ist mit ihren Problemen bei Weitem nicht alleine: Jeder dritte Erwachsene in Deutschland leidet jedes Jahr an einer psychische Erkrankung. Das sind fast 18 Millionen Menschen. Am häufigsten leiden die Betroffenen unter Angststörungen, gefolgt von affektiven Störungen, also auffällig veränderte Stimmungslagen, wie zum Beispiel bei Depressionen und Alkoholismus oder Medikamentenmissbrauch.

Durch Corona stagnieren viele Behandlungen

Auf all diese Menschen hat die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen nicht selten katastrophale Auswirkungen. „Vor allem der zweite Lockdown, der seit Anfang November gilt, belastet viele Patienten stark“, sagt Ulrike von Hanffstengel, die in Nürnberg eine psychotherapeutische Praxis betreibt. Für psychisch Erkrankte bedeutet der komplette Shutdown, dass ihnen wichtige Ressourcen genommen werden. „Viele Menschen, die ich behandle, leben  sehr isoliert. Die gingen früher beispielsweise oft ins Café, um mal raus und unter Menschen zu kommen. Das fällt nun alles weg“, erklärt die Therapeutin.

Auch Frau von Hanffstengel musste sich den hohen Inzidenzwerten teilweise geschlagen geben und eine Unterstützungsgruppe für Frauen, die sie in ihrer Praxis angeboten hatte, schließen. Für ihre Patientinnen sei das nicht einfach, erzählt sie. Besonders schwer aber hätten es derzeit Patientinnen und Patienten mit einer Trauma-Störung. „Gerade diese Patienten fühlen sich schnell bedroht und reagieren deshalb auch sehr sensibel auf die vielen Corona-Schutzmaßnahmen.“ Auch die relativ dichten FFP2-Masken könnten viele nicht tragen, weil das in ihnen leicht Panik auslöse.

Menschen mit einer Depression leiden ähnlich stark. Laut einer aktuellen Erhebung der Deutschen Depressionshilfe ging es 44 Prozent der Menschen mit einer diagnostizierten Depression im letzten halben Jahr durch Corona deutlich schlechter. 16 Prozent berichten von Rückfällen. 8 Prozent haben darüber nachgedacht, sich das Leben zu nehmen.

Wie schwer es vielen Betroffenen fällt, mit der aktuellen Situation umzugehen, zeigt sich auch in der Therapie. „Viele Behandlungen stagnieren“, berichtet die Ulrike von Hanffstengel aus ihrem Praxisalltag. Letztendlich sei es schon ein großer Erfolg, wenn die Patientinnen und Patienten einigermaßen stabil durch diese Monate kommen, sagt sie.

Auch Genesene brauchen wieder psychologische Unterstützung

Wie belastet viele Menschen durch Corona sind, merkt Ulrike von Hanffstengel auch daran, dass sich wieder Patientinnen und Patienten bei ihr melden, die ihre Therapie schon vor längerem abgeschlossen hatten. Für eine ehemalige Patientin brachte Corona einen besonders harten Rückschlag.

Unruhe, Angst, Panik: Wie Katja wieder abstürzte

Auch Katja Heinrich* ging es eigentlich besser. Seit anderthalb Jahren ist sie in psychologischer Behandlung, weil sie unter Depressionen und einer Somatisierungsstörung leidet. Das bedeutet, dass sie permanent Ängste, Unruhe und innere Beklemmungen empfindet, die keine körperliche Ursache haben. Außerdem fürchtet sie sich ständig davor an einer schweren Krankheit, wie Corona zu erkranken. In der Therapie machte sie Fortschritte. Im Herbst 2020 ging es ihr sogar so gut, dass sie das Medikament, das sie gegen ihre Panikgefühle nahm, langsam absetzte. Dann kam der Lockdown und Katja ging es von Woche zu Woche schlechter.

Therapieplätze sind Mangelware

Dass Katja bereits vor Corona einen Therapieplatz gefunden hat, war ihre Rettung. Für sie ist klar: „Ohne professionelle Unterstützung in dieser Zeit, wäre ich völlig untergegangen“. So viel Glück wie Katja hat nicht jeder. Laut einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung unter seinen Mitgliedern vom Februar 2021 sind die Patientenanfragen nach einem Therapieplatz in den psychotherapeutischen Praxen im letzten Jahr um 40 Prozent gestiegen. Gleiches gilt für die Wartezeiten: Die Hälfte der Patientinnen und Patienten muss länger als einen Monat auf einen ersten Termin warten. Ein Drittel wartet länger als ein halbes Jahr.

Susanne hat hingegen keinen Therapieplatz. Vor Corona kam sie mit ihren Essattacken noch irgendwie klar, bekam ihr Leben einigermaßen geregelt. Jetzt aber hielt sie es nicht mehr aus. Nach einigen gescheiterten Anläufen suchte sie sich bei einem Netzwerk gegen Essstörungen Hilfe. Dort riet man ihr zu einem stationären Aufenthalt. Sie meldete sich sofort bei einer auf Essstörungen spezialisierten Klinik an. Ein paar Tage später kam der Brief mit ihrem Aufnahmetermin: Sie muss noch ein Jahr warten. Der Grund: Die Klinik kann wegen Corona nur die Hälfte ihrer Betten belegen, erhält aber wesentlich mehr Anmeldungen als sonst.

Diese Zahlen spiegeln nicht nur einen Corona-Effekt wider. Denn der Bedarf nach Psychotherapie steigt jedes Jahr. Das weiß auch die Psychotherapeutin Ulrike von Hanffstengel. „Leider kann ich derzeit keine neuen Patientinnen und Patienten aufnehmen, auch nicht auf der Warteliste“. In leuchtendem Orange stand dieser Satz bereits vor dem Ausbruch der Pandemie auf ihrer Praxis-Webseite. Die Pandemie habe die Unterversorgung mit Therapieplätzen in Deutschland letztendlich nur noch weiter verschärft, sagt sie.

Neben dem individuellen Leid der Betroffen, spielen auch die volkswirtschaftlichen Kosten eine große Rolle. Bleiben Patienten lange Zeit unbehandelt, steigt das Risiko einer Arbeitsunfähigkeit durch die psychische Erkrankung. Laut Daten des Bundes wurden im Jahr 2018 16 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage durch eine psychische Erkrankung verursacht. Die Betroffenen waren durchschnittlich für 42 Tage wegen ihrer Erkrankung krankgeschrieben. Mittlerweile sind psychische Erkrankungen laut Zahlen der Deutschen Rentenversicherung mit 42 Prozent auch der häufigste Grund für eine Frühverrentung.

Die Psyche online therapieren – eine Alternative?

Mittlerweile gibt es Alternativen zur klassischen Psychotherapie. So befriedigen gerade diverse Apps die Not vieler Menschen nach psychologischer Unterstützung. Viele sollten jedoch vorsichtig genutzt werden und können die Probleme mitunter verschlimmern, weil sie psychologisch schlecht ausgearbeitet sind. Im schlimmsten Fall bieten sie den Betroffenen keine Hilfe zur Selbsthilfe, sondern sind vielmehr eine Plattform, auf der andere User Suizide ankündigen oder Tipps darüber austauschen, wie sie sich am besten das Leben nehmen könnten.

Doch es gibt auch seriöse Angebote, wie beispielsweise die App „Minddoc“. Sie enthält viele Kurse und praktische Übungen, die auch in im Rahmen einer verhaltenstherapeutischen Psychotherapie angewendet werden. Damit können die Nutzerinnen und Nutzer gezielt bestimmte psychische Probleme und Defizite angehen.

Außerdem können Hilfesuchende über die App Therapiestunden per Video mit einem ausgebildeten Psychotherapeuten durchführen. Viele Krankenkassen und Krankenversicherungen wie beispielsweise die Allianz, Barmer oder Gothaer übernehmen wie bei einer klassischen Psychotherapie die Kosten. Für Personen in einer drängenden Krisensituation mag das eine gute Alternative sein – und wenn es nur die Zeit für einen ersten vor Ort Termin in einer niedergelassenen Praxis überbrückt.

* Die Namen wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert.

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